5. TEIL

LIEBE?

Gehen wir erst einmal ins Internet und schauen bei Wikipedia nach, was die unter „Liebe“ verstehen. Also
Wikipedia definiert Liebe als im Allgemeinen die Bezeichnung für die stärkste Zuneigung und Wertschätzung, die ein Mensch einem anderen entgegenzubringen in der Lage ist.
So, so.

Nun bin ich fast 70 Jahre alt und mache mir erst heute Gedanken darüber, ob ich je geliebt habe oder geliebt wurde.

Natürlich wurde ich geliebt, zumindest als Kleinkind von meinen Eltern. Sie haben und hätten alles für mich getan, was man von liebenden Eltern erwartet, sie haben mich gefüttert, gekleidet, sauber gehalten, erzogen, mit mir gespielt, mich gesund gepflegt, wenn ich krank war, mit mir gekuschelt, kurzum alles gegeben, um mir ihre Liebe auch zu zeigen. Ich selbst fühlte die Sicherheit, die mich umgab, selbst wenn es wie damals üblich hier und da einen Klaps auf mein Hinterteil gab oder ich ziemlich oft ein strenges „Nein, das darfst du nicht!“ zu hören bekam ohne zu verstehen, dass die Verbote Erziehungsmaßnahmen waren, die meiner Sicherheit und als Stütze für mein späteres Leben dienten oder dienen sollten. Sie gaben mir ihre stärkste Zuneigung.
Ich war, glaube ich, vier Jahre alt als ich meiner Mutter heimlich eine Mark und fünf Pfennig aus ihrem Portmonee nahm. Mit meinem Schatz ging ich zu meinem Freund Mecki, dem ebenfalls 4jährigen Nachbars Sohn, und bat ihn, mit mir zum Tante-Emma-Laden im Haus nebenan zu gehen. Er war natürlich dabei, und wir kauften eine Flasche Bier „für meinen Vater“ und einen Brausewürfel für 5 Pfennig. Der Hinweis „für meinen Vater“ ließ die hinter der Theke stehendenTante-Emma keinen Verdacht schöpfen, obwohl, wie ich später erfuhr, mein Vater bei ihr noch nie Bier gekauft hatte. Wir suchten uns eine stille Ecke im Hinterhof, lutschten an unserem Brausewürfel, den wir vorher in zwei Teile gebrochen hatten, und versuchten, die Flasche Bier zu öffnen. Irgendwie ist es uns auch gelungen. Es gab noch keine Bierflaschen mit Kronenkorken, mit der Kraft von zwei Vierjährigen war es schon möglich, den damaligen Verschluss zu öffnen. Heute ist er wieder modern und wird von ein paar Brauereien aus nostalgischen Gründen bzw. als Werbegag verwendet. Als wir also die Flasche endlich geöffnet hatten, nahm jeder einen kleinen Schluck und spuckten sofort das eklig schmeckende Zeug wieder aus. Was sollten wir also mit dem Rest tun? Ausschütten, was sonst! Das war ein Spaß, die Flüssigkeit verwandelte sich in weißen Schaum. sehr viel weißen Schaum. Das hatten wir nicht erwartet und wir quiekten vor Freude. Das hörte Meckis Mutter und sah aus dem Fenster. Sofort schlug sie es zu und rannte zu meinen Eltern, Telefon hatten wir damals noch nicht. „Bei uns schäumts!“ soll sie gesagt haben. Als sich das Corpus Delicti aufgelöst hatte kamen sie alle angerannt und sahen nur noch die leere Bierflasche. Sie wussten also nicht ob und wieviel Bier wir getrunken hatten. Eine Atemkontrolle bewies, dass wir beide eine Alkoholfahne hatten. Es konnte ja nur ein Fähnchen sein, aber immerhin.
Was mit Micki passiert ist, das weiß ich nicht mehr, aber meine Eltern griffen jeder eine meiner Hände, der Druck bewies ihre Wut, und zogen mich zu uns nach Hause. Und dann bekam ich eine Tracht Prügel, so stark, wie ich es von meinen Eltern nicht kannte. Das war kein Klaps mehr, das tat richtig weh. Ich schrie und die Tränen liefen und liefen. Doch irgendwann hört auch der schlimmste Schmerz auf und ich beruhigte mich wieder. Und dann begann das Verhör: Wo hast du das Bier gekauft und wo hast du das Geld her? Ich beichtete, verstand aber immer noch nicht, was daran so schlimm war, dass meine Eltern so wütend waren. Die Antwort kam prompt: „Es ist nicht, dass du eine Flasche Bier gekauft hast, es ist, weil du Geld aus Mutters Portmonee gestohlen hast.“ Danach folgte eine lange Erklärung, was Diebstahl ist, und warum man nicht stehlen soll. Gut, das habe ich verstanden, aber warum haben sie zuerst zugeschlagen und dann erst von meinem Diebstahl erfahren? Trotzdem habe ich damals noch nicht an ihrer Liebe zu mir gezweifelt.

Als Teenager empfand ich das ganz anders. Ich war sicher, dass meine Eltern mich nicht liebten. sie schimpften zu oft mit mir. Ich konnte ihnen kaum etwas Recht machen. Sie beobachteten mich ständig und hatten an allen möglichen Dingen etwas auszusetzen. Ein Lob gab es in unserer kleinen Familie nicht, gut gemachte Dinge waren eben selbstverständlich, und es blieben mir nur die Taten, die Grund für Beanstandungen waren, im Gedächtnis haften. So suchte ich die Liebe außerhalb meines Elternhauses.
Ich war 13 Jahre alt, ging ins Gymnasium und hatte dort meine Freundin Heli kennengelernt. Wir waren bis zum Abitur unzertrennlich, eine Liebe, die erst aufhörte, als sich unsere Wege während unserer Ausbildung trennten. Aber davon wollte ich gar nicht sprechen, sondern Heli war diejenige, die mich darauf aufmerksam machte, dass es neben Mädchen auch noch Jungen gab. Und so entdeckte ich die Anfänge eines Gefühls, das ich bis dahin nicht kannte. Heli hatte sich in einen Jungen der Nachbarschule verguckt, erzählte mir wie sehr sie ihn neben einigen Stars aus der Musikbranche liebe. Die Stars waren nicht zu haben aber der Junge war gar nicht so weit entfernt. Sie sah Chancen, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Um diese Chancen zu vergrößern versuchte sie es mit einem Trick. Sie zeigte mir den Freund ihrer damals ach so großen Schwärmerei, einen Jungen, der fast täglich auf seinem Heimweg mit dem Fahrrad an unserer Schule vorbei fuhr, jedoch kein Auge für die Mädchen hatte, die ihm entgegen kamen, also auch nicht für mich. Bis es bei mir „funkte“ vergingen ein paar Wochen, er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Paul McCartney von den Beatles. Als ich das erkannte war ich in ihn verliebt, ich träumte Tag und Nacht von ihm, hoffte, dass er auch mich mal ansieht, mal mit mir spricht, kurz das gleiche für mich empfindet. Aber mehr als zufällige Begegnungen sind dabei nie heraus gekommen, mal traf die Mädchengruppe die Jungengruppe im Schwimmbad, einmal sind wir alle zusammen Boot gefahren, oder wir haben kleine Radtouren unternommen, doch ich war niemals mit ihm allein. Trotzdem war ich glücklich. Die wenigen Worte, die wir in den Jahren gewechselt haben, konnte man an einer Hand abzählen, aber mir reichte es, ich liebte! Oder vielleicht doch nicht? Irgendwann verschwand er, verließ die Schule und ich vergaß ihn. Während meines Studiums tauchte er plötzlich in irgendeiner Studentenkneipe oder auf irgendeiner Party wieder auf. Und auf einmal hat er mich wahr genommen, wir tranken, redeten, tanzten zusammen und anschließend brachte er mich nach Hause, er hatte ein Auto und da er zu viel getrunken hatte, bin ich mit diesem Auto gefahren. Wir waren knapp zwei Monate zusammen und dann verschwand er für immer, ich habe ihn nie wieder gesehen. Habe ich ihn geliebt? Wikipedia würde nein sagen, ich auch.

Meine nächste Erfahrung mit der Liebe machte ich mit 17 Jahren. Wir Mädchen gingen gern tanzen, immer auf der Suche nach dem männlichen Geschlecht. Und beim Tanzen begegnete mir mein erster fester Freund. Er hieß Joschka und war 4 Jahre älter als ich. Er studierte Biologie und kam Woche für Woche ins selbe Tanzlokal, in das Heli und ich ebenfalls Woche für Woche gingen. So lernten wir uns kennen, wir flirteten und nach einigen scheuen Blicken fasste er sich ein Herz und forderte mich zum Tanzen auf. Wir waren von diesem Tag an knapp drei Jahre unzertrennlich. Er war die Ursache dafür, dass ich nicht das studiert habe, was ich ursprünglich wollte. Ich wäre damals gern Innenarchitektin geworden und Architektur wurde an seiner Universität nicht angeboten. Aber ich wollte während des Studiums bei ihm sein und so wählte ich gemäß Wunsch meiner Eltern Physik und Chemie, was sich dann später als Flop herausstellte. Ich war dafür nicht geschaffen. Von Joschka lernte ich, dass Rauchen Spaß macht besonders wenn man Joints raucht. Ich lernte auch, dass ich als Student nicht unbedingt lernen muss, meine Freiheit war grenzenlos, ich wohnte nicht mehr bei meinen Eltern. Ich hatte zum ersten Mal Sex, hatte Angst schwanger zu sein, und meine Eltern mochten Joschka überhaupt nicht. Dass er tatsächlich nicht der Richtige für mich war habe ich lange nicht gemerkt bis zu dem Zeitpunkt als er mir gestand, dass er mit einer anderen Frau geschlafen hatte. Von dem Moment an war meine Liebe, wenn es denn jemals Liebe war, gestorben. Ich wollte nichts mehr von ihm wissen. Ein paar Mal hat er noch versucht Kontakt mit mir aufzunehmen, einmal kam er sogar über meinen Balkon ins Zimmer (ich wohnte im 1. Stock). Ich musste Hilfe holen, damit er meine Studentenbude verließ.
Anschließend habe ich Joschka nie wieder gesehen.

Kurz vor meinem 21. Geburtstag habe ich meine große Liebe kennen gelernt, zumindest dachte ich das. Das begann so: An der Uni lernt man viele Leute auch aus anderen Fachbereichen kennen, geht mit ihnen ein Bier trinken, trifft sich auf Parties oder geht zusammen ins Kino, und manchmal lernt man auch zusammen, das jedoch seltener. Irgendwo dort ist mir Uli begegnet. Ab und zu hat er mich besucht, wir haben zusammen gegessen, geraucht und getrunken, hatten aber keinen Sex, er war einfach nicht mein Typ. Eines Tages kam er mit einem kleinen Zeitungsausschnitt zu mir und hielt ihn mir hin. Es war eine Kontaktanzeige aus der Frankfurter Rundschau, ein Mann suchte eine Frau. Der Text ist mir entfallen, aber irgendwie klingen sie ja alle gleich. Uli meinte: „Schreibe doch mal diesem Mann, ich glaube ich kenne ihn“. Für solche Späße war ich zu haben und ich fand es auch gar nicht komisch wieso eine nichts sagende Kontaktanzeige Aufschluss über eine bestimmte Person geben soll. Die einzige Verbindung war die Frankfurter Zeitung, eigentlich überregional, und sein Bekannter kam aus Frankfurt. Ich schrieb also diesem unbekannten Mann so als wäre ich interessiert, und tatsächlich antwortete er mir. Ich war aus dem Häuschen. Sein Bild zeigte einen mir sehr sympathischen Mann und ich fasste den Entschluss ihn näher kennen zu lernen. Uli erzählte ich, dass ich auf mein Schreiben keine Antwort bekommen hätte und lernte Norbert kennen. Er entpuppte sich als Mann zum Heiraten, war sehr zuvorkommend, gut erzogen (im Sinne meiner Eltern) und er liebte mich heiß und innig, wenigstens die nächsten acht Jahre. Er brachte mir bei, selbstbewusst zu werden, half mir, der Uni lebe wohl zu sagen und eine Banklehre zu beginnen, die ich später mit Auszeichnung beendet habe. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich geachtet bekam Lob und Ansehen, was mein Selbstwertgefühl enorm steigerte. Ich war in dieser Zeit sehr glücklich. Wir heirateten, und auch das trug viel zu meinem nun sorgenfreien und unbekümmerten Leben bei. Der ganze Ballast der Jungend fiel von mir ab, ich fing an zu leben und genoss dieses Leben in vollen Zügen. Norbert und ich bekamen einen Sohn, auch das war wunderbar. Obwohl sich von diesem Tag an zumindest mein Leben änderte, schätzte ich das Zusammensein unserer kleinen Familie sehr. Dann wollte ich ein zweites Kind und Norbert nicht. Es war der erste Knacks in unserer nun schon 8 Jahre dauernden Ehe. Zwar hatten wir vorher schon Differenzen, doch zumindest ich habe das noch gelassen hingenommen. Das hörte an dem Tag auf als Norbert mir erklärte, dass er kein zweites Kind möchte, obwohl wir das vor unserer Hochzeit so beschlossen hatten. Es hat ein paar Monate gedauert bis ich ihn soweit hatte, dass er mit einem zweiten Kind einverstanden war, doch der Knacks war da, ich bekam ein schlechtes Gewissen und ein zweites Kind. Es wurde ein Mädchen und war fortan Papas Liebling. Mit zwei Kindern potenziert sich die Arbeit der Mutter, Hausfrau und Teilzeit-Jobberin. Zeit für den Ehemann bleibt da wenig und so lebten wir uns langsam auseinander. Es war nicht so, dass wir uns gar nicht mehr verstanden, aber die Streitigkeiten nahmen von Jahr zu Jahr zu. Die Einigkeit, die vorher herrschte, verschwand allmählich und plötzlich wurden die früheren Kleinigkeiten, die einem beim anderen nicht passten größer und größer bis wir uns plötzlich wie Fremde gegenüber standen. Und so kam der Zeitpunkt der Trennung. Glücklicherweise waren die Kinder groß und litten nicht so sehr darunter.
War es Liebe, was uns verband? Warum ist die Verbindung dann abgebrochen? Kann Liebe sterben?
Wo beginnt „die stärkste Zuneigung und Wertschätzung, die ein Mensch einem anderen entgegenzubringen in der Lage ist“. Muss diese Zuneigung und Wertschätzung ewig dauern? Ist sie einseitig oder verlangen wir vom anderen ebenfalls Zuneigung und Wertschätzung? Und wo beginnt der Superlativ „stärkste“? Ist Liebe bedingungslos?
Meine Eltern haben mich geliebt, das steht außer Frage, ich war und bin ihr Kind bis heute geblieben, und ich? Zuneigung war da, aber Wertschätzung? Sie haben viel falsch gemacht in ihrer Erziehung. Es war gut gemeint, kam aber bei mir nicht an. Sie haben mich nie für etwas gelobt, mir wieder und wieder erklärt, dass ich nichts kann, nichts schaffe und mein Leben nicht meistern werde. Und so wurde das Gefühl sie zu lieben immer schwächer. Heute empfinde ich nur noch die Verpflichtung ihnen das Alter so angenehm wie möglich zu machen ohne dabei mich selbst zu opfern.
Als Teenager habe ich geglaubt zu lieben, doch heute weiß ich, es war eine Schwärmerei, ein Spiel der Hormone in einem Körper, der die Sexualität entdeckt. Die Person selbst war unwichtig und austauschbar. Da meine Gefühle nicht erwidert, meine Erwartungen also nicht erfüllt wurden, habe ich auch nicht geliebt.
Ähnlich ist es mir mit Joschka gegangen. Es war schön mit ihm zusammen zu sein, ich habe zu ihm aufgeblickt, denn in meinen Augen machte er alles richtig, zumindest am Anfang. Ich hatte die berühmten Schmetterlinge in meinem Bauch. Dass etwas nicht stimmte kam dann ganz plötzlich, ich vermisste auf einmal seine Zuneigung und seine Wertschätzung mir gegenüber. Das schlich sich so langsam in mein Gehirn ein und blieb darin haften. Zuerst denkt man, das gibt sich wieder aber die beginnende Abneigung wuchs, da meine Erwartungen an ihn immer weniger erfüllt wurden. Seine Untreue war dann der Punkt, an dem ich meine Zuneigung und Wertschätzung verlor. Ebenso erging es mir bei meinem Ex-Ehemann, da hat es nur etwas länger gedauert bis sich die Zuneigung und Wertschätzung in Luft auflöste. Liebe ist also von einer gewissen Erwartungshaltung abhängig, also nicht bedingungslos. Zumindest bei mir nicht. Goethe sah es bei seinen „Leiden des jungen Werther“ anders. Könnte er Recht haben? Kann Liebe doch bedingungslos sein?
Ja, sie kann, und ich erlebe sie jeden Tag. Es ist die Liebe zu meinen Kindern, und seit Kurzem auch die Liebe zu meinen Enkeln, hier stimmt die Wikipedia-Definition zu 100%. Ich erwarte für diese Liebe keine Gegenleistung und ich erwarte auch nicht, dass sie mich lieben.

Sina Bach