7. TEIL

Jaques Tati & Mister X

es kam wie es kommen musste, meine schulischen Leistungen wurden immer schlechter bis zweimal die Note mangelhaft in meinem Zeugnis stand und ich das Schuljahr wiederholen musste.  Sicher, Sitzenbleiben ist kein schönes Gefühl, und wenn man zum Außenseiter degradiert wird, man von den Mitschülerinnen gemieden wird, so bricht für eine 14jährige eine Welt zusammen. Zufällig und glücklicherweise passierte meiner Freundin Heli das Gleiche, und wir konnten unser Selbstmitleid gemeinsam ausleben.

Als das neue Schuljahr begann und wir in die neue Klasse kamen, spürten wir die Isolation nicht allzu deutlich und wir gewöhnten uns schnell an die neuen Mitschüler und sie sich an uns.  Und, hurra, wir bekamen neue Lehrer. Besonders freute ich mich über die neue Englischlehrerin, bei der ich mich von einer fünf auf eine vier verbessern konnte. Das war schon sensationell, mein Verständnis für Fremdsprachen lag damals auf einer Skala von 1 bis 10  so bei 2 ½.

Ebenso bekam ich einen neuen Deutschlehrer, denn auch Deutsch war der Grund für meine Ehrenrunde in der Klasse. Herr Kleiber kam neu an unsere Schule, keiner kannte ihn und so waren wir alle neugierig als er mit steifen Schritten und mit einer zu kurz geratenen, etwas schmuddeligen Hose bekleidet in unser Leben trat. Wer die alten Filme mit Jaques Tati kennt kann sich Herrn Kleiber gut vorstellen. Sein Deutschunterricht war völlig anders als wir es gewohnt waren. Als erstes hat er uns ein Gedicht vorgetragen, sehr pathetisch also laut, voller Inbrunst und Leidenschaft. Es war der „Erlkönig“ von Johann Wolfgang von Goethe. Dabei spuckte er bei jedem zweiten Wort die Mädchen in der ersten Reihe voll. Voller Ekel beschlossen sie, an keiner Deutschstunde mehr ohne Regenschirm teil zu nehmen, wenn der „Erlkönig“ mal wieder auf dem Programm stand.  Ich selbst saß in der zweiten Reihe und bekam nichts ab. Für mich war das Fach Deutsch auf einmal lustig geworden und mit meinen Aufsätzen lag ich auf derselben Wellenlänge wie mein Lehrer. Ich verbesserte mich von einer 5 auf eine 2. Nach einem Jahr musste Herr Kleiber zu meinem Bedauern die Schule verlassen, die Art seines Unterrichts gefiel nicht, weder dem Schulkollegium noch den Schülern, die bei ihm schlechtere Noten bekamen als vorher. Und so bekam ich meinen alten Deutschlehrer zurück. Dieser gab mir dann wieder Jahr für Jahr eine 5, auch im Abitur, so dass ich ständig Angst hatte, die Schule ohne Abschluss verlassen zu müssen. All meine Bemühungen auf eine bessere Note schlugen fehl. Ich gebe zu, meine Aufsätze  waren nicht gerade das, was mein Lehrer sich wünschte, doch ich versuchte es  mit Tricks wie zum Beispiel Interpretationen von klassischen Werken deutscher Dichter vorab zu lesen oder mich mit schriftlichen Hausarbeiten hervor zu tun. Doch das hatte keinen positiven Einfluss auf meine Zeugnisnote. So schrieb ich Jahr für Jahr meine mit „mangelhaft“ unterschriebenen Aufsätze ohne irgendwelche Kommentare seitens des Pädagogen, so dass ich nicht wusste, was ich eigentlich falsch gemacht hatte und diese Note rechtfertigte. 

Dann war da noch Herr Iks, von uns nur Mister X genannt. Er war der neue Kunstlehrer und war in erster Linie, wen wundert es, Künstler. Da es Künstler meistens schwer haben mit ihrer Kunst Geld zu verdienen, hat er sich den Lehrberuf als Einnahmequelle ausgesucht. Zum einen war ich glücklich, endlich meine miserable Kunstnote verbessern zu können, die mir Frau Reich mangels Kenntnis des  zweiten biblischen Gebots wiederholt beschert hatte. Zum anderen konnte ich ganz gut malen und mich mit dem oberen Drittel meiner Mitschülerinnen messen. Meine Bilder brachten es immer bis zu den Ausstellungen im Klassenraum, zumindest im ersten Jahr. Während meine Kameradinnen eine zwei oder drei erhielten, bekam ich meine vier der vergangenen Jahre. Was war ich enttäuscht. Wie war das möglich? So schlecht waren meine Bilder doch nicht. 

Ich begann zu recherchieren und fand im zweiten Jahr heraus, Herr Iks kannte mich gar nicht, dieser Mann wusste nicht wie ich hieß und er wusste auch die Namen der anderen nicht. So hat er die Vorjahresnote allen Schülerinnen jedes Jahr aufs Neue gegeben. Das haben die Mädchen natürlich auch gemerkt und die meisten haben keine Bilder mehr gemalt, ich übrigens auch nicht. Herrn Iks war es egal, oder wenigstens fast. Er lebte in seiner eigenen Welt, in der nur die Kunst existierte. Er gab irgendein Thema vor und zog sich dann mit einem Kunstbuch hinter seinen Schreibtisch zurück. Irgendwann, es war ein Jahr vor dem Abitur, ist es auch ihm aufgefallen, dass er nichts vorweisen konnte und gab uns den Auftrag ein Bühnenbild aus Pappe zu erstellen. Zu dritt sollten wir in Gemeinschaftsarbeit ein solches Bühnenbild erstellen. Natürlich war Heli dabei und eine weitere Freundin, die wir beide in dieser Klasse hinzugewonnen hatten. Wir gaben uns Mühe und ich gebe nicht an, wenn ich erzähle, dass unser Bühnenbild das Beste der ganzen Klasse war. Herrn Iks ist das natürlich auch aufgefallen und er kam mit seinem Notenbüchlein, fragte nach unseren Namen und schrieb eine bessere Zensur fürs nächste Zeugnis in sein Büchlein. Meine Freundinnen bekamen daraufhin eine zwei, sie hatten vorher eine drei gehabt, und ich bekam eine drei. Wie bitte, für dieselbe Arbeit wurden wir mit verschiedenen Zensuren bedient? Verstehe einer einen Lehrer. Natürlich habe ich gefragt, und als Begründung bekam ich zur Antwort: „Ich darf als Lehrer nicht eine Zensur überspringen, darum kann ich nur eine drei geben!“ (siehe oben, von 5 auf 2 und zurück auf 5, das ging).

Ich hatte noch ein Jahr bis zum Abitur, aber am Kunstunterricht habe ich von diesem Tag an nicht mehr teilgenommen. Mister X hat es entweder nicht gemerkt oder wollte es nicht merken. Ich weiß es nicht. Ich genoss die zwei selbstgewählten Freistunden pro Woche im nahe gelegenen Park oder in der Eisdiele. An meiner Note hat sich nichts geändert.

Sina Bach