6. TEIL

Der Zahnstocher

Das Telefon klingelte Mittwoch Abend um 20:00 Uhr. Ich hatte es mir gerade auf dem Sofa bequem gemacht und den Fernseher eingeschaltet. Der durchdringende Ton des sich meldenden Telefons erschreckte mich schon sehr, meine Freunde und Bekannten rufen um diese Zeit nicht mehr an, wohl wissend, dass ich auf „ich wollte nur wissen wie es dir geht“ – Gespräche am Abend sehr unwirsch reagiere. Also lassen sie es lieber sein. Meine Eltern sind mittlerweile sehr alt und gesundheitlich angeschlagen und jeder Anruf zu später Stunde bedeutet für mich, etwas Schlimmes muss mit einem von ihnen geschehen sein.

Und so war es auch, fast wenigstens. Es war Simone, meine Tochter, am anderen Ende der Leitung. Sie war sehr aufgeregt, ihre Stimme zitterte als sie sagte:

„Ich habe ein Stück Zahnstocher verschluckt, muss ich jetzt in die Notaufnahme?“ 

Mein Schreck saß tief. „Ach du meine Güte, wie hast du das denn geschafft? Hat es weh getan?“

„Nein, eigentlich habe ich gar nichts gemerkt. Max und ich haben Rouladen gegessen und als ich etwa die Hälfte gegessen hatte, habe ich den Holzzahnstocher, der die Roulade zusammenhält,  herausgezogen und da fehlt ein Stück.“

„Wie groß?“

„So etwa zwei Zentimeter.“

„Das ist ganz schön lang, und du hast nichts gemerkt?“

„Wenn ich so nachdenke, dann meine ich doch einen Widerstand gespürt zu haben. Soll ich denn nun ins Krankenhaus fahren?“

„Du bist doch die Ärztin in unserer Familie, ich habe keine Ahnung. Wie fühlst du dich denn?“

„Ich weiß nicht, ich habe Angst! Und die werden mir in den Magen schauen und nichts finden, so ein Stöckchen im Magen, ich habe doch gegessen.“

„Hast du mal das Internet gefragt?“

„Ja klar, das war das erste, habe aber nichts konkretes gefunden. Die Leute sind sich nicht einig, ob das Stück Holz auf normalem Weg wieder heraus kommt oder ob eine Operation notwendig ist. Wenn der Zahnstocher ein Loch bohrt, dann blutet es in den Bauchraum und dann schmerzt es.“

„Wenn es so ist, dann kannst du ja auf die Schmerzen warten, aber dann ab ins Krankenhaus!“ Sollte etwas sein dann ruf an, egal wann, wir kommen und übernehmen dein Baby. Dann kann dein Max dich ins ins Krankenhaus fahren“.  Mehr wusste ich auch nicht zu sagen. 

Nach diesem Gespräch schaltete ich meinen Computer ein und versuchte etwas über verschluckte Holzstäbchen zu finden. Die Einzigen, denen so etwas passiert war, waren Hunde und sie hatten eigentlich nie Zahnstocher mit einer fürchterlich gefährlichen Spitze verschluckt. Diese Holzstäbchen wurden auch alle von ihren Herrchen und Frauchen einen Tag später gefunden, nämlich sobald sie die Exkremente ihrer Haustiere untersucht hatten. Simone ist allerdings kein Hund, also half das nicht weiter.

Ein Onlinedoktor, der unbedingt Kontakt mit mir aufnehmen wollte, öffnete ein Chatfenster, sobald ich seine Webseite auf meinem Bildschirm hatte. Er meinte zu diesem Thema ebenfalls, Simone solle warten bis sie Schmerzen bekommt, erst dann wird etwas unternommen. Es bestehe ja immer noch die Möglichkeit, dass der Gegenstand auf normalem Weg durch den Körper geht und ohne etwas zu verletzen wieder herauskommt. Das wiederum beruhigte etwas, aber nur etwas.

Mein Mann und ich gingen zu Bett und Simone rief nicht an. Natürlich haben wir schlecht geschlafen, doch alles schien ruhig und normal. Der Donnerstag verlief ohne Komplikationen, der Freitag kam und außer etwas Angst vor kommendem Ungemach verlief auch er ohne, dass sich das Zahnstocher-Stück meldete, ebenso am Samstag. Nichts geschah. 

Am Sonntag Morgen traf ich Simone im Chat und auch da schrieb sie mir, dass es immer noch keine Neuigkeiten gäbe. 

Ich schrieb: „Simone, ich habe den ganzen Vormittag überlegt, was eigentlich genau passiert ist, meiner Meinung nach kannst du so ein Stück Holz nicht verschlucken ohne es zu merken. Lass uns doch alles noch einmal durchgehen. Wer hat die Rouladen zubereitet und wer hat den Zahnstocher hineingesteckt?“

„Ich war das“.

„Und dabei ist er dir nicht kaputt gegangen?“

„nein!“

„Und beim Essen? Hast du ihn da durchgeschnitten?“

„Ich habe die Roulade nur mit der Gabel gegessen und dabei ist wohl das Stück abgebrochen.“

„Und weiter?“

Keine Antwort.

„Hast du vielleicht den Fettrand abgemacht und beiseite gelegt?“

Keine Antwort.

„Hast du die ganze Roulade aufgegessen?“

In dem Moment klingelte das Telefon. Simone rief an. Außer Atem und ganz euphorisch rief sie ins Telefon: „Ich habe das abgebrochene Stück, hier in meiner Hand, ich habe es nicht verschluckt! Ich brate immer 6 Rouladen auf einmal, zwei haben wir am Mittwoch gegessen, zwei weitere hat Max am Donnerstag und Freitag mit ins Büro genommen und nun stand noch der Rest im Kühlschrank. Ich hatte da schon mal nachgesehen und nichts gefunden. Jetzt habe ich noch einmal gründlicher nachgeschaut, es ist ja auch nur noch ein Rest da, und siehe da, in der Sauce schwamm das vermisste Stück.

Natürlich war die Erleichterung groß, fast fünf Tage Angst vor eventuellen Komplikationen können schon sehr an den Nerven zehren. 

Simone hat für die nächsten Rouladen Stäbchen aus Metall gekauft.

Sina Bach