DIE INTERNATIONALE FRANKFURTER BUCHMESSE 2017 – Ursula Overhage

Von: Roseliese Hess


Worüber haben Sie in Ihren Büchern geschrieben?

Ich habe mich in meinen Büchern auf bestimmte Frauen konzentriert, auf Frauen, die in der Geschichte, Literatur oder Kunst eine Rolle gespielt haben, die aber nicht genauso sichtbar geworden sind wie die Männer, hinter denen sie gestanden haben. Es geht um Frauen, die in der Vergangenheit nicht so selbstverständlich wie heute ein eigenständiges, unabhängiges Leben führen konnten, sondern mit Widerständen im privaten und beruflichen Bereich zu kämpfen hatten und sich trotzdem durchgesetzt haben. Über mein Buch „Transit Moskau“, das die beiden Schriftstellerinnen Margarete Steffin und Maria Osten behandelt, gab es bei seinem Erscheinen im Jahr 1998 eine Besprechung in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Schattenfrauen in neuem Licht“.  Diese Überschrift bezieht sich auf einen Vers aus Bertolt Brechts Dreigroschenoper: „Denn die einen sind im Dunkeln, und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.“ Ich wollte die Frauen, über die ich geschrieben habe, aus dem Dunkel heraus holen und sichtbar machen, ihre Geschichte sichtbar machen und ihre Leistung würdigen. Denn sie haben eine Geschichte, die es lohnt erzählt zu werden. Diese Geschichte wollte ich erzählen.

Die Frauen, über die ich in meinen Büchern schreibe, haben ein Leben gehabt, das es wert ist erzählt zu werden. Sie haben eine Leistung vollbracht. Sie haben ein Werk hinterlassen, das aber nicht so beachtet wurde wie das der Männer. Bertolt Brecht zum Beispiel ist eine große Gestalt im Theater und in der Literatur. Die Frauen, die mit ihm und auch für ihn gearbeitet haben und ebenfalls etwas geschaffen haben, waren lange Zeit vergessen. Ein anderes Beispiel ist die Frau des Impressionisten Lovis Corinth. Charlotte  Berend-Corinth war eine begabte und in ihrer Zeit anerkannte Malerin. Sie ist dennoch hinter dem Werk ihres Mannes zurückgetreten. Corinths Gemälde hängen in den großen Museen weltweit. Seine Frau, Charlotte Berend-Corinth, fand nicht diese Bedeutung und Anerkennung, wie ihr Mann sie ganz selbstverständlich genoss, und sie geriet in Vergessenheit. Ich fand es wichtig, solchen Frauen ihr Gesicht wieder zu geben,  ihnen ihre Namen wieder zu geben und sie durch meine Bücher wieder bekannt zu machen.

Warum nennen Sie die Frauen in Ihren Büchern „Frauen, die im Schatten stehen“?

Ich nannte als ein Beispiel Bertolt Brecht und Margarete Steffin. Brecht ist berühmt und man kennt seinen Namen. Wer aber kennt Steffin, die, wie Brecht selbst bekannte, „als kleine Lehrmeisterin aus der Arbeiterklasse“ Einfluss auf sein Werk hatte? Sie war seine Co-Autorin und hat darüber hinaus ein eigenes Werk, ein Theaterstück und Prosa, hinterlassen. Die Geschichte der Literatur und Kunst war lange Zeit eine männliche Domäne. Frauen standen im Schatten der Männer und stärkten ihnen den Rücken.

Erst die Frauenbewegung hat einen Wechsel der Perspektive, eine neue Sichtweise gebracht. Sie hat dafür gesorgt, dass Frauen in den Vordergrund rückten, dass sie ernst genommen und ihre Werke gewürdigt wurden.

Frauen hatten bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts kein Recht auf eine akademische Ausbildung. Sie durften keine Universität besuchen. Die ersten Frauen wurden 1908 in Preußen an Universitäten zugelassen. Hochschulen waren vorher ausschließlich den Männern vorbehalten. Bildung war für Frauen nicht vorgesehen. Durch die frühe Frauenbewegung, die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte und mit der Frauen um Gleichberechtigung und das Recht auf Schule,  Ausbildung und Beruf kämpften, ging es Schritt für Schritt mit der Emanzipation voran. In Deutschland wurden Frauen später als in anderen europäischen Ländern zum Studium zugelassen. Eine Möglichkeit gab es zuerst in der Schweiz. Die Universität Zürich war die erste, die Frauen zum Studium zugelassen hat, und auch Paris nahm hier eine Vorreiterstellung ein. Deutschland lag aufgrund seiner Zersplitterung und Kleinstaaterei in der Entwicklung zurück. Die Frauen hatten hier eine Menge aufzuholen und dabei auch gegen den massiven Widerstand von Berufsverbänden der Männer zu kämpfen. Standesvereinigungen wie zum Beispiel diejenigen von Juristen, Oberlehrern oder Handelsangestellten wehrten sich dagegen, dass Frauen studieren und Zugang zu ihren Berufen erhalten sollten. Dennoch entstand eine starke Frauenbewegung, aus der zahlreiche aktive Frauenvereine hervor gingen. Sie kämpften für das Frauenwahlrecht, das nach dem Ende des 1. Weltkriegs in der Weimarer Republik gesetzlich verankert wurde.

Wie lange haben Sie an Ihrem Buch „Transit Moskau“ gearbeitet?

Für die Recherche inklusive Forschungsreisen und die Erstellung des Manuskripts habe ich zwei Jahre benötigt. Das Buch erschien 1998 im Jahr von Brechts hundertstem Geburtstag und wurde dann auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert. Es ist die Geschichte zweier Frauen, die mit Brecht und für Brecht gearbeitet haben. Sie waren auch eigenständige Schriftstellerinnen, aber lange Zeit hinter dem  Namen Brecht verschwunden.

Welchen Eindruck haben Sie von der Buchmesse – damals und heute? Was hat sich in Ihren Augen verändert?

Auf der Buchmesse herrscht immer viel Bewegung und es gibt jedes Jahr zahlreiche Neuerungen. Es gibt eine riesige Menge von Besuchern, Ausstellern und Veranstaltungen. Man muss sich auf diesen „Ansturm“ vorbereiten und seine Anlaufstellen gezielt heraus „picken“, um eine gewisse Übersicht zu haben und für sich etwas „mitzunehmen“. Darin hat sich nicht allzu viel verändert.

Welche Fachrichtung haben Sie studiert?

Ich habe Germanistik, Geschichte und Philosophie studiert und mit dem Staatsexamen abgeschlossen.

Stehen Frauen nicht heute noch im Schatten der Männer?

Die Frage kann ich so allgemein nicht beantworten. Hier kann ich nur für meinen Bereich, den des Buches, sprechen, in dem Frauen sehr stark repräsentiert sind. Der Verein „Bücherfrauen e.V.“, dem ich auch angehöre, setzt sich seit über 25 Jahren für die Förderung und Sichtbarmachung von Frauen ein. Dieses berufliche Netzwerk zeigt Stärke und großen Erfolg. Hier steht keine Frau im Schatten der Männer, sondern, im Gegenteil, im Rampenlicht auf vorderer Bühne.

 

Bedeutet das, dass eine Geschichte wie die von Margarete Steffin und Maria Osten, die hinter Brecht standen, in unserer heutigen Zeit so nicht mehr möglich wäre?

Das ist wohl so. Es handelt sich hier ja um ein Stück Zeitgeschichte aus dem vergangenen Jahrhundert. Die beiden Protagonistinnen meines Buches befanden sich in einer extrem schwierigen Lage, die mit der heutigen Situation hier bei uns nicht zu vergleichen ist. Mit Brecht im Exil lebten sie unter permanenter Bedrohung von außen, ständig auf der Flucht und dabei „öfter die Länder als die Schuhe wechselnd“, wie Brecht schrieb. Dennoch steckten sie alle Kraft und ihre ganze Hoffnung in ihre Arbeit, die sie für wichtig und notwendig hielten. Und niemand wusste, wie lange der Krieg dauern und ob sie das rettende Ziel – Amerika – erreichen würden. In dieser ständigen Not und Anspannung immer weiter zu kämpfen und zu arbeiten scheint mir eine gewaltige, ja beinahe übermenschliche Leistung. Das kann man nicht mehr auf die heutige Zeit übertragen.

Das Buch „Die Schwestern Berend“ erschien dann 2001

Das ist die Geschichte der Schwestern Alice und Charlotte Berend, die aus einer traditionsreichen jüdischen Familie in Berlin stammten und sich als Künstlerinnen einen Namen machten. Die ältere Schwester Alice wurde Schriftstellerin im renommierten S.Fischer-Verlag und die jüngere Charlotte, die nach ihrer Heirat den Doppelnamen Berend-Corinth annahm, wurde Malerin. Die beiden Frauen waren in ihrer Zeit erfolgreich, aber sie mussten sich ihre Anerkennung hart erkämpfen. Warum die Frauen  es damals nicht leicht hatten, darüber habe ich ja schon weiter oben gesprochen. Für die beiden Schwestern Berend kam erschwerend hinzu, dass sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten verfolgt und ausgegrenzt wurden. Mit ihrer Flucht aus Deutschland und der erzwungenen Emigration brach ihre Karriere ab. Alice, die ehemalige Erfolgsschriftstellerin, ging nach Italien und starb verarmt und vergessen. Charlotte, die Malerin, ging nach Amerika und konnte dort neue Erfolge verbuchen. Auch in Deutschland hatte sie nach Kriegsende wieder eine Ausstellung. Aber in der Regel war es für die meisten, die durch die Emigration ihr Publikum und ihre einstigen Verbindungen verloren hatten, nicht möglich noch einmal an ihre frühere Karriere anzuknüpfen.

 

Haben Sie weitere Bücher geschrieben?

Mein erstes Buch war „Wotans Rabe“ über die halbjüdische Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, die in der Zeit des Nationalsozialismus Publikationsverbot hatte. Ihr Werk ist heute in Vergessenheit geraten. Bekannt wurde sie hauptsächlich wieder durch die autobiografische Erzählung „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ ihrer Tochter Cordelia, die ihre Deportation nach Auschwitz überlebt hatte. In meinem Buch bin ich der problematischen Beziehung zwischen der Mutter und Tochter nachgegangen.Außerdem ist meine Dissertation über Stadtentwicklung und Ordensgründung im späten Mittelalter im Jahr 2014 als gedrucktes Werk in einem Wissenschaftsverlag erschienen.

Arbeiten Sie zurzeit an einem neuen Buch?

Ja, aber solange ich daran arbeite, sollte nichts darüber verraten werden.

 

Werden Frauen heute noch benachteiligt?

Allgemein kann ich die Frage nicht beantworten. Für meinen Bereich des Buchwesens und der Literatur empfinde ich das nicht so. Die Frauen haben sich hier einen guten Stand erkämpft. Sie sind präsent und gut vertreten. Sie haben ein professionell arbeitendes Netzwerk geschaffen. Es gibt viele Verlage, die von Frauen geführt werden. Frauen sind erfolgreich  in allen Bereichen „rund ums Buch“, als Verlegerin,  Lektorin, Übersetzerin, Agentin, usw. Das Netzwerk der Bücherfrauen wirbt übrigens mit dem Slogan: „Die Branche ist weiblich“. Mehr braucht man dazu eigentlich nicht zu sagen.

Würden Sie sich  als Feministin bezeichnen?

Ich freue mich sehr, dass wir Frauen im Lauf einer langen Entwicklung so viel erreicht haben. Es war ein langer Weg, der auch immer wieder von Rückschlägen unterbrochen war. Aber wir stehen heute gut da, sind stark, erfolgreich und selbstbewusst.

Also, der heutige Feminismus, das Recht von Frauen, berufstätig zu sein, eine Arbeit zu haben, sich selbständig zu machen, ohne von den Männern abhängig oder bevormundet zu sein, selbständig das eigene Leben zu bestimmen und zu gestalten, den Beruf, den man mag, frei wählen zu können, Geld zu verdienen ohne die Erlaubnis des Ehemannes einholen zu müssen – wenn das Feminismus ist, ja, dann wäre ich wohl eine Feministin.

 


7. TEIL

Jaques Tati & Mister X

es kam wie es kommen musste, meine schulischen Leistungen wurden immer schlechter bis zweimal die Note mangelhaft in meinem Zeugnis stand und ich das Schuljahr wiederholen musste.  Sicher, Sitzenbleiben ist kein schönes Gefühl, und wenn man zum Außenseiter degradiert wird, man von den Mitschülerinnen gemieden wird, so bricht für eine 14jährige eine Welt zusammen. Zufällig und glücklicherweise passierte meiner Freundin Heli das Gleiche, und wir konnten unser Selbstmitleid gemeinsam ausleben.

Als das neue Schuljahr begann und wir in die neue Klasse kamen, spürten wir die Isolation nicht allzu deutlich und wir gewöhnten uns schnell an die neuen Mitschüler und sie sich an uns.  Und, hurra, wir bekamen neue Lehrer. Besonders freute ich mich über die neue Englischlehrerin, bei der ich mich von einer fünf auf eine vier verbessern konnte. Das war schon sensationell, mein Verständnis für Fremdsprachen lag damals auf einer Skala von 1 bis 10  so bei 2 ½.

Ebenso bekam ich einen neuen Deutschlehrer, denn auch Deutsch war der Grund für meine Ehrenrunde in der Klasse. Herr Kleiber kam neu an unsere Schule, keiner kannte ihn und so waren wir alle neugierig als er mit steifen Schritten und mit einer zu kurz geratenen, etwas schmuddeligen Hose bekleidet in unser Leben trat. Wer die alten Filme mit Jaques Tati kennt kann sich Herrn Kleiber gut vorstellen. Sein Deutschunterricht war völlig anders als wir es gewohnt waren. Als erstes hat er uns ein Gedicht vorgetragen, sehr pathetisch also laut, voller Inbrunst und Leidenschaft. Es war der „Erlkönig“ von Johann Wolfgang von Goethe. Dabei spuckte er bei jedem zweiten Wort die Mädchen in der ersten Reihe voll. Voller Ekel beschlossen sie, an keiner Deutschstunde mehr ohne Regenschirm teil zu nehmen, wenn der „Erlkönig“ mal wieder auf dem Programm stand.  Ich selbst saß in der zweiten Reihe und bekam nichts ab. Für mich war das Fach Deutsch auf einmal lustig geworden und mit meinen Aufsätzen lag ich auf derselben Wellenlänge wie mein Lehrer. Ich verbesserte mich von einer 5 auf eine 2. Nach einem Jahr musste Herr Kleiber zu meinem Bedauern die Schule verlassen, die Art seines Unterrichts gefiel nicht, weder dem Schulkollegium noch den Schülern, die bei ihm schlechtere Noten bekamen als vorher. Und so bekam ich meinen alten Deutschlehrer zurück. Dieser gab mir dann wieder Jahr für Jahr eine 5, auch im Abitur, so dass ich ständig Angst hatte, die Schule ohne Abschluss verlassen zu müssen. All meine Bemühungen auf eine bessere Note schlugen fehl. Ich gebe zu, meine Aufsätze  waren nicht gerade das, was mein Lehrer sich wünschte, doch ich versuchte es  mit Tricks wie zum Beispiel Interpretationen von klassischen Werken deutscher Dichter vorab zu lesen oder mich mit schriftlichen Hausarbeiten hervor zu tun. Doch das hatte keinen positiven Einfluss auf meine Zeugnisnote. So schrieb ich Jahr für Jahr meine mit „mangelhaft“ unterschriebenen Aufsätze ohne irgendwelche Kommentare seitens des Pädagogen, so dass ich nicht wusste, was ich eigentlich falsch gemacht hatte und diese Note rechtfertigte. 

Dann war da noch Herr Iks, von uns nur Mister X genannt. Er war der neue Kunstlehrer und war in erster Linie, wen wundert es, Künstler. Da es Künstler meistens schwer haben mit ihrer Kunst Geld zu verdienen, hat er sich den Lehrberuf als Einnahmequelle ausgesucht. Zum einen war ich glücklich, endlich meine miserable Kunstnote verbessern zu können, die mir Frau Reich mangels Kenntnis des  zweiten biblischen Gebots wiederholt beschert hatte. Zum anderen konnte ich ganz gut malen und mich mit dem oberen Drittel meiner Mitschülerinnen messen. Meine Bilder brachten es immer bis zu den Ausstellungen im Klassenraum, zumindest im ersten Jahr. Während meine Kameradinnen eine zwei oder drei erhielten, bekam ich meine vier der vergangenen Jahre. Was war ich enttäuscht. Wie war das möglich? So schlecht waren meine Bilder doch nicht. 

Ich begann zu recherchieren und fand im zweiten Jahr heraus, Herr Iks kannte mich gar nicht, dieser Mann wusste nicht wie ich hieß und er wusste auch die Namen der anderen nicht. So hat er die Vorjahresnote allen Schülerinnen jedes Jahr aufs Neue gegeben. Das haben die Mädchen natürlich auch gemerkt und die meisten haben keine Bilder mehr gemalt, ich übrigens auch nicht. Herrn Iks war es egal, oder wenigstens fast. Er lebte in seiner eigenen Welt, in der nur die Kunst existierte. Er gab irgendein Thema vor und zog sich dann mit einem Kunstbuch hinter seinen Schreibtisch zurück. Irgendwann, es war ein Jahr vor dem Abitur, ist es auch ihm aufgefallen, dass er nichts vorweisen konnte und gab uns den Auftrag ein Bühnenbild aus Pappe zu erstellen. Zu dritt sollten wir in Gemeinschaftsarbeit ein solches Bühnenbild erstellen. Natürlich war Heli dabei und eine weitere Freundin, die wir beide in dieser Klasse hinzugewonnen hatten. Wir gaben uns Mühe und ich gebe nicht an, wenn ich erzähle, dass unser Bühnenbild das Beste der ganzen Klasse war. Herrn Iks ist das natürlich auch aufgefallen und er kam mit seinem Notenbüchlein, fragte nach unseren Namen und schrieb eine bessere Zensur fürs nächste Zeugnis in sein Büchlein. Meine Freundinnen bekamen daraufhin eine zwei, sie hatten vorher eine drei gehabt, und ich bekam eine drei. Wie bitte, für dieselbe Arbeit wurden wir mit verschiedenen Zensuren bedient? Verstehe einer einen Lehrer. Natürlich habe ich gefragt, und als Begründung bekam ich zur Antwort: „Ich darf als Lehrer nicht eine Zensur überspringen, darum kann ich nur eine drei geben!“ (siehe oben, von 5 auf 2 und zurück auf 5, das ging).

Ich hatte noch ein Jahr bis zum Abitur, aber am Kunstunterricht habe ich von diesem Tag an nicht mehr teilgenommen. Mister X hat es entweder nicht gemerkt oder wollte es nicht merken. Ich weiß es nicht. Ich genoss die zwei selbstgewählten Freistunden pro Woche im nahe gelegenen Park oder in der Eisdiele. An meiner Note hat sich nichts geändert.

Sina Bach


6. TEIL

Der Zahnstocher

Das Telefon klingelte Mittwoch Abend um 20:00 Uhr. Ich hatte es mir gerade auf dem Sofa bequem gemacht und den Fernseher eingeschaltet. Der durchdringende Ton des sich meldenden Telefons erschreckte mich schon sehr, meine Freunde und Bekannten rufen um diese Zeit nicht mehr an, wohl wissend, dass ich auf „ich wollte nur wissen wie es dir geht“ – Gespräche am Abend sehr unwirsch reagiere. Also lassen sie es lieber sein. Meine Eltern sind mittlerweile sehr alt und gesundheitlich angeschlagen und jeder Anruf zu später Stunde bedeutet für mich, etwas Schlimmes muss mit einem von ihnen geschehen sein.

Und so war es auch, fast wenigstens. Es war Simone, meine Tochter, am anderen Ende der Leitung. Sie war sehr aufgeregt, ihre Stimme zitterte als sie sagte:

„Ich habe ein Stück Zahnstocher verschluckt, muss ich jetzt in die Notaufnahme?“ 

Mein Schreck saß tief. „Ach du meine Güte, wie hast du das denn geschafft? Hat es weh getan?“

„Nein, eigentlich habe ich gar nichts gemerkt. Max und ich haben Rouladen gegessen und als ich etwa die Hälfte gegessen hatte, habe ich den Holzzahnstocher, der die Roulade zusammenhält,  herausgezogen und da fehlt ein Stück.“

„Wie groß?“

„So etwa zwei Zentimeter.“

„Das ist ganz schön lang, und du hast nichts gemerkt?“

„Wenn ich so nachdenke, dann meine ich doch einen Widerstand gespürt zu haben. Soll ich denn nun ins Krankenhaus fahren?“

„Du bist doch die Ärztin in unserer Familie, ich habe keine Ahnung. Wie fühlst du dich denn?“

„Ich weiß nicht, ich habe Angst! Und die werden mir in den Magen schauen und nichts finden, so ein Stöckchen im Magen, ich habe doch gegessen.“

„Hast du mal das Internet gefragt?“

„Ja klar, das war das erste, habe aber nichts konkretes gefunden. Die Leute sind sich nicht einig, ob das Stück Holz auf normalem Weg wieder heraus kommt oder ob eine Operation notwendig ist. Wenn der Zahnstocher ein Loch bohrt, dann blutet es in den Bauchraum und dann schmerzt es.“

„Wenn es so ist, dann kannst du ja auf die Schmerzen warten, aber dann ab ins Krankenhaus!“ Sollte etwas sein dann ruf an, egal wann, wir kommen und übernehmen dein Baby. Dann kann dein Max dich ins ins Krankenhaus fahren“.  Mehr wusste ich auch nicht zu sagen. 

Nach diesem Gespräch schaltete ich meinen Computer ein und versuchte etwas über verschluckte Holzstäbchen zu finden. Die Einzigen, denen so etwas passiert war, waren Hunde und sie hatten eigentlich nie Zahnstocher mit einer fürchterlich gefährlichen Spitze verschluckt. Diese Holzstäbchen wurden auch alle von ihren Herrchen und Frauchen einen Tag später gefunden, nämlich sobald sie die Exkremente ihrer Haustiere untersucht hatten. Simone ist allerdings kein Hund, also half das nicht weiter.

Ein Onlinedoktor, der unbedingt Kontakt mit mir aufnehmen wollte, öffnete ein Chatfenster, sobald ich seine Webseite auf meinem Bildschirm hatte. Er meinte zu diesem Thema ebenfalls, Simone solle warten bis sie Schmerzen bekommt, erst dann wird etwas unternommen. Es bestehe ja immer noch die Möglichkeit, dass der Gegenstand auf normalem Weg durch den Körper geht und ohne etwas zu verletzen wieder herauskommt. Das wiederum beruhigte etwas, aber nur etwas.

Mein Mann und ich gingen zu Bett und Simone rief nicht an. Natürlich haben wir schlecht geschlafen, doch alles schien ruhig und normal. Der Donnerstag verlief ohne Komplikationen, der Freitag kam und außer etwas Angst vor kommendem Ungemach verlief auch er ohne, dass sich das Zahnstocher-Stück meldete, ebenso am Samstag. Nichts geschah. 

Am Sonntag Morgen traf ich Simone im Chat und auch da schrieb sie mir, dass es immer noch keine Neuigkeiten gäbe. 

Ich schrieb: „Simone, ich habe den ganzen Vormittag überlegt, was eigentlich genau passiert ist, meiner Meinung nach kannst du so ein Stück Holz nicht verschlucken ohne es zu merken. Lass uns doch alles noch einmal durchgehen. Wer hat die Rouladen zubereitet und wer hat den Zahnstocher hineingesteckt?“

„Ich war das“.

„Und dabei ist er dir nicht kaputt gegangen?“

„nein!“

„Und beim Essen? Hast du ihn da durchgeschnitten?“

„Ich habe die Roulade nur mit der Gabel gegessen und dabei ist wohl das Stück abgebrochen.“

„Und weiter?“

Keine Antwort.

„Hast du vielleicht den Fettrand abgemacht und beiseite gelegt?“

Keine Antwort.

„Hast du die ganze Roulade aufgegessen?“

In dem Moment klingelte das Telefon. Simone rief an. Außer Atem und ganz euphorisch rief sie ins Telefon: „Ich habe das abgebrochene Stück, hier in meiner Hand, ich habe es nicht verschluckt! Ich brate immer 6 Rouladen auf einmal, zwei haben wir am Mittwoch gegessen, zwei weitere hat Max am Donnerstag und Freitag mit ins Büro genommen und nun stand noch der Rest im Kühlschrank. Ich hatte da schon mal nachgesehen und nichts gefunden. Jetzt habe ich noch einmal gründlicher nachgeschaut, es ist ja auch nur noch ein Rest da, und siehe da, in der Sauce schwamm das vermisste Stück.

Natürlich war die Erleichterung groß, fast fünf Tage Angst vor eventuellen Komplikationen können schon sehr an den Nerven zehren. 

Simone hat für die nächsten Rouladen Stäbchen aus Metall gekauft.

Sina Bach


5. TEIL

LIEBE?

Gehen wir erst einmal ins Internet und schauen bei Wikipedia nach, was die unter „Liebe“ verstehen. Also
Wikipedia definiert Liebe als im Allgemeinen die Bezeichnung für die stärkste Zuneigung und Wertschätzung, die ein Mensch einem anderen entgegenzubringen in der Lage ist.
So, so.

Nun bin ich fast 70 Jahre alt und mache mir erst heute Gedanken darüber, ob ich je geliebt habe oder geliebt wurde.

Natürlich wurde ich geliebt, zumindest als Kleinkind von meinen Eltern. Sie haben und hätten alles für mich getan, was man von liebenden Eltern erwartet, sie haben mich gefüttert, gekleidet, sauber gehalten, erzogen, mit mir gespielt, mich gesund gepflegt, wenn ich krank war, mit mir gekuschelt, kurzum alles gegeben, um mir ihre Liebe auch zu zeigen. Ich selbst fühlte die Sicherheit, die mich umgab, selbst wenn es wie damals üblich hier und da einen Klaps auf mein Hinterteil gab oder ich ziemlich oft ein strenges „Nein, das darfst du nicht!“ zu hören bekam ohne zu verstehen, dass die Verbote Erziehungsmaßnahmen waren, die meiner Sicherheit und als Stütze für mein späteres Leben dienten oder dienen sollten. Sie gaben mir ihre stärkste Zuneigung.
Ich war, glaube ich, vier Jahre alt als ich meiner Mutter heimlich eine Mark und fünf Pfennig aus ihrem Portmonee nahm. Mit meinem Schatz ging ich zu meinem Freund Mecki, dem ebenfalls 4jährigen Nachbars Sohn, und bat ihn, mit mir zum Tante-Emma-Laden im Haus nebenan zu gehen. Er war natürlich dabei, und wir kauften eine Flasche Bier „für meinen Vater“ und einen Brausewürfel für 5 Pfennig. Der Hinweis „für meinen Vater“ ließ die hinter der Theke stehendenTante-Emma keinen Verdacht schöpfen, obwohl, wie ich später erfuhr, mein Vater bei ihr noch nie Bier gekauft hatte. Wir suchten uns eine stille Ecke im Hinterhof, lutschten an unserem Brausewürfel, den wir vorher in zwei Teile gebrochen hatten, und versuchten, die Flasche Bier zu öffnen. Irgendwie ist es uns auch gelungen. Es gab noch keine Bierflaschen mit Kronenkorken, mit der Kraft von zwei Vierjährigen war es schon möglich, den damaligen Verschluss zu öffnen. Heute ist er wieder modern und wird von ein paar Brauereien aus nostalgischen Gründen bzw. als Werbegag verwendet. Als wir also die Flasche endlich geöffnet hatten, nahm jeder einen kleinen Schluck und spuckten sofort das eklig schmeckende Zeug wieder aus. Was sollten wir also mit dem Rest tun? Ausschütten, was sonst! Das war ein Spaß, die Flüssigkeit verwandelte sich in weißen Schaum. sehr viel weißen Schaum. Das hatten wir nicht erwartet und wir quiekten vor Freude. Das hörte Meckis Mutter und sah aus dem Fenster. Sofort schlug sie es zu und rannte zu meinen Eltern, Telefon hatten wir damals noch nicht. „Bei uns schäumts!“ soll sie gesagt haben. Als sich das Corpus Delicti aufgelöst hatte kamen sie alle angerannt und sahen nur noch die leere Bierflasche. Sie wussten also nicht ob und wieviel Bier wir getrunken hatten. Eine Atemkontrolle bewies, dass wir beide eine Alkoholfahne hatten. Es konnte ja nur ein Fähnchen sein, aber immerhin.
Was mit Micki passiert ist, das weiß ich nicht mehr, aber meine Eltern griffen jeder eine meiner Hände, der Druck bewies ihre Wut, und zogen mich zu uns nach Hause. Und dann bekam ich eine Tracht Prügel, so stark, wie ich es von meinen Eltern nicht kannte. Das war kein Klaps mehr, das tat richtig weh. Ich schrie und die Tränen liefen und liefen. Doch irgendwann hört auch der schlimmste Schmerz auf und ich beruhigte mich wieder. Und dann begann das Verhör: Wo hast du das Bier gekauft und wo hast du das Geld her? Ich beichtete, verstand aber immer noch nicht, was daran so schlimm war, dass meine Eltern so wütend waren. Die Antwort kam prompt: „Es ist nicht, dass du eine Flasche Bier gekauft hast, es ist, weil du Geld aus Mutters Portmonee gestohlen hast.“ Danach folgte eine lange Erklärung, was Diebstahl ist, und warum man nicht stehlen soll. Gut, das habe ich verstanden, aber warum haben sie zuerst zugeschlagen und dann erst von meinem Diebstahl erfahren? Trotzdem habe ich damals noch nicht an ihrer Liebe zu mir gezweifelt.

Als Teenager empfand ich das ganz anders. Ich war sicher, dass meine Eltern mich nicht liebten. sie schimpften zu oft mit mir. Ich konnte ihnen kaum etwas Recht machen. Sie beobachteten mich ständig und hatten an allen möglichen Dingen etwas auszusetzen. Ein Lob gab es in unserer kleinen Familie nicht, gut gemachte Dinge waren eben selbstverständlich, und es blieben mir nur die Taten, die Grund für Beanstandungen waren, im Gedächtnis haften. So suchte ich die Liebe außerhalb meines Elternhauses.
Ich war 13 Jahre alt, ging ins Gymnasium und hatte dort meine Freundin Heli kennengelernt. Wir waren bis zum Abitur unzertrennlich, eine Liebe, die erst aufhörte, als sich unsere Wege während unserer Ausbildung trennten. Aber davon wollte ich gar nicht sprechen, sondern Heli war diejenige, die mich darauf aufmerksam machte, dass es neben Mädchen auch noch Jungen gab. Und so entdeckte ich die Anfänge eines Gefühls, das ich bis dahin nicht kannte. Heli hatte sich in einen Jungen der Nachbarschule verguckt, erzählte mir wie sehr sie ihn neben einigen Stars aus der Musikbranche liebe. Die Stars waren nicht zu haben aber der Junge war gar nicht so weit entfernt. Sie sah Chancen, ihn auf sich aufmerksam zu machen. Um diese Chancen zu vergrößern versuchte sie es mit einem Trick. Sie zeigte mir den Freund ihrer damals ach so großen Schwärmerei, einen Jungen, der fast täglich auf seinem Heimweg mit dem Fahrrad an unserer Schule vorbei fuhr, jedoch kein Auge für die Mädchen hatte, die ihm entgegen kamen, also auch nicht für mich. Bis es bei mir „funkte“ vergingen ein paar Wochen, er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Paul McCartney von den Beatles. Als ich das erkannte war ich in ihn verliebt, ich träumte Tag und Nacht von ihm, hoffte, dass er auch mich mal ansieht, mal mit mir spricht, kurz das gleiche für mich empfindet. Aber mehr als zufällige Begegnungen sind dabei nie heraus gekommen, mal traf die Mädchengruppe die Jungengruppe im Schwimmbad, einmal sind wir alle zusammen Boot gefahren, oder wir haben kleine Radtouren unternommen, doch ich war niemals mit ihm allein. Trotzdem war ich glücklich. Die wenigen Worte, die wir in den Jahren gewechselt haben, konnte man an einer Hand abzählen, aber mir reichte es, ich liebte! Oder vielleicht doch nicht? Irgendwann verschwand er, verließ die Schule und ich vergaß ihn. Während meines Studiums tauchte er plötzlich in irgendeiner Studentenkneipe oder auf irgendeiner Party wieder auf. Und auf einmal hat er mich wahr genommen, wir tranken, redeten, tanzten zusammen und anschließend brachte er mich nach Hause, er hatte ein Auto und da er zu viel getrunken hatte, bin ich mit diesem Auto gefahren. Wir waren knapp zwei Monate zusammen und dann verschwand er für immer, ich habe ihn nie wieder gesehen. Habe ich ihn geliebt? Wikipedia würde nein sagen, ich auch.

Meine nächste Erfahrung mit der Liebe machte ich mit 17 Jahren. Wir Mädchen gingen gern tanzen, immer auf der Suche nach dem männlichen Geschlecht. Und beim Tanzen begegnete mir mein erster fester Freund. Er hieß Joschka und war 4 Jahre älter als ich. Er studierte Biologie und kam Woche für Woche ins selbe Tanzlokal, in das Heli und ich ebenfalls Woche für Woche gingen. So lernten wir uns kennen, wir flirteten und nach einigen scheuen Blicken fasste er sich ein Herz und forderte mich zum Tanzen auf. Wir waren von diesem Tag an knapp drei Jahre unzertrennlich. Er war die Ursache dafür, dass ich nicht das studiert habe, was ich ursprünglich wollte. Ich wäre damals gern Innenarchitektin geworden und Architektur wurde an seiner Universität nicht angeboten. Aber ich wollte während des Studiums bei ihm sein und so wählte ich gemäß Wunsch meiner Eltern Physik und Chemie, was sich dann später als Flop herausstellte. Ich war dafür nicht geschaffen. Von Joschka lernte ich, dass Rauchen Spaß macht besonders wenn man Joints raucht. Ich lernte auch, dass ich als Student nicht unbedingt lernen muss, meine Freiheit war grenzenlos, ich wohnte nicht mehr bei meinen Eltern. Ich hatte zum ersten Mal Sex, hatte Angst schwanger zu sein, und meine Eltern mochten Joschka überhaupt nicht. Dass er tatsächlich nicht der Richtige für mich war habe ich lange nicht gemerkt bis zu dem Zeitpunkt als er mir gestand, dass er mit einer anderen Frau geschlafen hatte. Von dem Moment an war meine Liebe, wenn es denn jemals Liebe war, gestorben. Ich wollte nichts mehr von ihm wissen. Ein paar Mal hat er noch versucht Kontakt mit mir aufzunehmen, einmal kam er sogar über meinen Balkon ins Zimmer (ich wohnte im 1. Stock). Ich musste Hilfe holen, damit er meine Studentenbude verließ.
Anschließend habe ich Joschka nie wieder gesehen.

Kurz vor meinem 21. Geburtstag habe ich meine große Liebe kennen gelernt, zumindest dachte ich das. Das begann so: An der Uni lernt man viele Leute auch aus anderen Fachbereichen kennen, geht mit ihnen ein Bier trinken, trifft sich auf Parties oder geht zusammen ins Kino, und manchmal lernt man auch zusammen, das jedoch seltener. Irgendwo dort ist mir Uli begegnet. Ab und zu hat er mich besucht, wir haben zusammen gegessen, geraucht und getrunken, hatten aber keinen Sex, er war einfach nicht mein Typ. Eines Tages kam er mit einem kleinen Zeitungsausschnitt zu mir und hielt ihn mir hin. Es war eine Kontaktanzeige aus der Frankfurter Rundschau, ein Mann suchte eine Frau. Der Text ist mir entfallen, aber irgendwie klingen sie ja alle gleich. Uli meinte: „Schreibe doch mal diesem Mann, ich glaube ich kenne ihn“. Für solche Späße war ich zu haben und ich fand es auch gar nicht komisch wieso eine nichts sagende Kontaktanzeige Aufschluss über eine bestimmte Person geben soll. Die einzige Verbindung war die Frankfurter Zeitung, eigentlich überregional, und sein Bekannter kam aus Frankfurt. Ich schrieb also diesem unbekannten Mann so als wäre ich interessiert, und tatsächlich antwortete er mir. Ich war aus dem Häuschen. Sein Bild zeigte einen mir sehr sympathischen Mann und ich fasste den Entschluss ihn näher kennen zu lernen. Uli erzählte ich, dass ich auf mein Schreiben keine Antwort bekommen hätte und lernte Norbert kennen. Er entpuppte sich als Mann zum Heiraten, war sehr zuvorkommend, gut erzogen (im Sinne meiner Eltern) und er liebte mich heiß und innig, wenigstens die nächsten acht Jahre. Er brachte mir bei, selbstbewusst zu werden, half mir, der Uni lebe wohl zu sagen und eine Banklehre zu beginnen, die ich später mit Auszeichnung beendet habe. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich geachtet bekam Lob und Ansehen, was mein Selbstwertgefühl enorm steigerte. Ich war in dieser Zeit sehr glücklich. Wir heirateten, und auch das trug viel zu meinem nun sorgenfreien und unbekümmerten Leben bei. Der ganze Ballast der Jungend fiel von mir ab, ich fing an zu leben und genoss dieses Leben in vollen Zügen. Norbert und ich bekamen einen Sohn, auch das war wunderbar. Obwohl sich von diesem Tag an zumindest mein Leben änderte, schätzte ich das Zusammensein unserer kleinen Familie sehr. Dann wollte ich ein zweites Kind und Norbert nicht. Es war der erste Knacks in unserer nun schon 8 Jahre dauernden Ehe. Zwar hatten wir vorher schon Differenzen, doch zumindest ich habe das noch gelassen hingenommen. Das hörte an dem Tag auf als Norbert mir erklärte, dass er kein zweites Kind möchte, obwohl wir das vor unserer Hochzeit so beschlossen hatten. Es hat ein paar Monate gedauert bis ich ihn soweit hatte, dass er mit einem zweiten Kind einverstanden war, doch der Knacks war da, ich bekam ein schlechtes Gewissen und ein zweites Kind. Es wurde ein Mädchen und war fortan Papas Liebling. Mit zwei Kindern potenziert sich die Arbeit der Mutter, Hausfrau und Teilzeit-Jobberin. Zeit für den Ehemann bleibt da wenig und so lebten wir uns langsam auseinander. Es war nicht so, dass wir uns gar nicht mehr verstanden, aber die Streitigkeiten nahmen von Jahr zu Jahr zu. Die Einigkeit, die vorher herrschte, verschwand allmählich und plötzlich wurden die früheren Kleinigkeiten, die einem beim anderen nicht passten größer und größer bis wir uns plötzlich wie Fremde gegenüber standen. Und so kam der Zeitpunkt der Trennung. Glücklicherweise waren die Kinder groß und litten nicht so sehr darunter.
War es Liebe, was uns verband? Warum ist die Verbindung dann abgebrochen? Kann Liebe sterben?
Wo beginnt „die stärkste Zuneigung und Wertschätzung, die ein Mensch einem anderen entgegenzubringen in der Lage ist“. Muss diese Zuneigung und Wertschätzung ewig dauern? Ist sie einseitig oder verlangen wir vom anderen ebenfalls Zuneigung und Wertschätzung? Und wo beginnt der Superlativ „stärkste“? Ist Liebe bedingungslos?
Meine Eltern haben mich geliebt, das steht außer Frage, ich war und bin ihr Kind bis heute geblieben, und ich? Zuneigung war da, aber Wertschätzung? Sie haben viel falsch gemacht in ihrer Erziehung. Es war gut gemeint, kam aber bei mir nicht an. Sie haben mich nie für etwas gelobt, mir wieder und wieder erklärt, dass ich nichts kann, nichts schaffe und mein Leben nicht meistern werde. Und so wurde das Gefühl sie zu lieben immer schwächer. Heute empfinde ich nur noch die Verpflichtung ihnen das Alter so angenehm wie möglich zu machen ohne dabei mich selbst zu opfern.
Als Teenager habe ich geglaubt zu lieben, doch heute weiß ich, es war eine Schwärmerei, ein Spiel der Hormone in einem Körper, der die Sexualität entdeckt. Die Person selbst war unwichtig und austauschbar. Da meine Gefühle nicht erwidert, meine Erwartungen also nicht erfüllt wurden, habe ich auch nicht geliebt.
Ähnlich ist es mir mit Joschka gegangen. Es war schön mit ihm zusammen zu sein, ich habe zu ihm aufgeblickt, denn in meinen Augen machte er alles richtig, zumindest am Anfang. Ich hatte die berühmten Schmetterlinge in meinem Bauch. Dass etwas nicht stimmte kam dann ganz plötzlich, ich vermisste auf einmal seine Zuneigung und seine Wertschätzung mir gegenüber. Das schlich sich so langsam in mein Gehirn ein und blieb darin haften. Zuerst denkt man, das gibt sich wieder aber die beginnende Abneigung wuchs, da meine Erwartungen an ihn immer weniger erfüllt wurden. Seine Untreue war dann der Punkt, an dem ich meine Zuneigung und Wertschätzung verlor. Ebenso erging es mir bei meinem Ex-Ehemann, da hat es nur etwas länger gedauert bis sich die Zuneigung und Wertschätzung in Luft auflöste. Liebe ist also von einer gewissen Erwartungshaltung abhängig, also nicht bedingungslos. Zumindest bei mir nicht. Goethe sah es bei seinen „Leiden des jungen Werther“ anders. Könnte er Recht haben? Kann Liebe doch bedingungslos sein?
Ja, sie kann, und ich erlebe sie jeden Tag. Es ist die Liebe zu meinen Kindern, und seit Kurzem auch die Liebe zu meinen Enkeln, hier stimmt die Wikipedia-Definition zu 100%. Ich erwarte für diese Liebe keine Gegenleistung und ich erwarte auch nicht, dass sie mich lieben.

Sina Bach


4. TEIL

Empathie

Meine Mutter lebt in einem Pflegeheim und ich besuche sie regelmäßig. Vor etwa einem Jahr fuhr ich nach meiner Verabschiedung mit dem Fahrstuhl aus dem 3. Stock hinunter zum Ausgang. Ich war in diesem Fahrstuhl nicht allein. In der Ecke stand ein älterer kleiner Mann auf seinen Rollator gestützt und lächelte mich an. Ich grüßte ihn und bemerkte, dass ich mich über sein Lächeln freue, da in einem Pflegeheim die Bewohner sehr selten lachen, geschweige denn lächeln. Diese schauen immer traurig, enttäuscht oder wütend in die Welt und sein Lächeln ist eine wunderbare Abwechslung an so einem Ort.

Er begann zu strahlen und meinte, man müsse mit guter Laune durchs Leben gehen, auch an einem Ort, an dem alle Menschen so ernst drein schauen. Daraufhin verließ er den Fahrstuhl im ersten Stock und ich strebte dem Ausgang zu.

Etwa zwei Wochen später begegnete mir der kleine Mann wieder, dieses Mal am Eingang des Pflegeheims, er erkannte mich, strahlte wieder über das ganze Gesicht, fragte nach meinem Namen und sagte: „Ich bin der Hermann, wir können uns doch duzen,“ und er begann mich in sein Zimmer einzuladen, damit wir uns mal etwas länger unterhalten können. Er hätte auch ein paar Flaschen Wein. Ich sagte ihm, ehrlich gesagt, besuche ich hier meine Mutter und habe keine Zeit, trinke auch kein Alkohol, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, aber wir könnten irgendwann einmal im Café des Pflegeheims einen Kaffee zusammen trinken. Damit erklärte er sich einverstanden und trottete mit seinem Rollator Richtung Fahrstuhl.

„Hallo Sina, schön, dich zu sehen!“ rief er ein paar Tage später. Dieses Mal saß er auf einer Bank vor dem Pflegeheim und ließ die Sonnenstrahlen seinen Körper erwärmen. Wieder kam ich von meiner Mutter und hastete Richtung Parkplatz. Doch ich konnte nicht so tun als hätte ich ihn nicht gesehen und auch nicht gehört. „Hallo Hermann, wie geht es dir heute?“ „Wenn ich dich sehe, dann geht es mir gut, du bist immer so freundlich!“ Ich setzte mich neben ihn auf die Bank und er begann aus seinem Leben zu erzählen, wollte gar nicht mehr aufhören. Ich hörte ihm zu, brauchte gar nichts zu sagen. Er war glücklich. Irgendwann holte er tief Luft und meinte: „Es ist Mittagszeit, ich muss gehen. Sie warten nicht mit dem Essen, wenn ich nicht pünktlich bin.“ Ich atmete auf, doch er war noch nicht fertig. „Wann kommst du immer hierher?“ „Nun ja, ich besuche meine Mutter regelmäßig immer Montags, Mittwochs und Freitags. Ich komme gegen 11:00 Uhr und bleibe etwa eine Stunde“ Damit entließ er mich und ich strebte rasch zu meinem Auto.

Seitdem sitzt Hermann Montags, Mittwochs und Freitags kurz vor 11:00 Uhr auf einer Bank am Parkplatzrand und wartet. Im späten Sommer, an warmen Tagen im Herbst und dann auch an kalten Tagen im Winter, manchmal ohne Mantel, hin und wieder unrasiert, was ihm sehr peinlich ist, sitzt er da, ein Kissen untergelegt, die Füße auf den Rollator platziert, und wenn mein Auto um die Ecke biegt steht er auf, winkt mir schon von weitem zu, hüpft von einem Bein aufs andere und strahlt übers ganze Gesicht. Wenn ich dann vor ihm stehe, umarmt er mich, drückt mich vor Freude. Manchmal bringt er mir auch kleine Geschenke mit, eine Tafel Schokolade oder etwas Obst. Ich habe, obwohl meine Mutter wartet, immer ein paar Minuten Zeit für ihn. Dann nehme ich ihn an die meist kalte Hand, gehe langsam mit ihm ins Haus und zum Fahrstuhl während er seinen Rollator mit der anderen Hand vor sich herschiebt. Am Fahrstuhl drückt er mich erneut and sagt jedes Mal: „Auf Wiedersehen und bis übermorgen. Ich freue mich schon jetzt darauf. Du kommst doch?“ Er hält meine Hand fest bis der Fahrstuhl seine Tür öffnet und ich gehen muss. Bis die Fahrstuhltür schließt winkt er und manchmal wischt er sich heimlich eine Träne aus dem Auge.

Seit letzter Woche ist die Bank leer, er wartet nicht mehr. Ich vermisse sein strahlendes Gesicht, frage mich, will er mich nicht mehr treffen? Ist er krank? Irgendetwas stimmt nicht. Ich gehe zur Pflegeheim-Verwaltung und frage nach Hermann? „Hermann ist vor einer Woche gestorben, er ist friedlich in seinem Bett eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht“ bekomme ich zu hören. Ich bin schockiert, so plötzlich und ohne Vorankündigung verließ Hermann diese Welt.

Zuerst mache ich mir Vorwürfe, wir haben nie einen Kaffee zusammen getrunken, nie hatte ich lange Zeit für ihn und doch war Hermann glücklich gewesen, glücklich über eine Begegnung, die ihm etwas von seiner Einsamkeit im Pflegeheim nahm.

Sina Bach




 

3. Teil

Willkür

„Sigismunde, geh doch bitte sofort zu Frau Reich in den Kunstsaal, sie erwartet dich!“ Mit diesen Worten begrüßte Frau Liebeling, meine Klassenlehrerin, die Schülerinnen der Quinta in der letzten Unterrichtsstunde des Tages. Frau Liebeling unterrichtete Englisch. Ich fiel fast vom Stuhl, so hat mich dieser Satz erschreckt. Was wollte meine Kunstlehrerin von mir, dass das bevorstehende Gespräch wichtiger war als der Englischunterricht, wichtiger als alle Schülerinnen der Klasse mit einem „Guten Morgen“ zu begrüßen?

Verlegen stand ich auf und bewegte mich Richtung Kunstsaal. Unterwegs fing ich an zu zittern, denn so etwas bedeutete nichts Gutes. Allerdings hatte ich auch keine Ahnung, was ich angestellt haben könnte. Vor der Tür holte ich erst einmal tief Luft, klopfte zaghaft an und nach einem zornig klingenden „Herein!“ ging ich hinein. Das Zittern bekam ich jedoch nicht in den Griff. Frau Reich saß starr am Pult, ein von mir entworfenes aus Magazinen ausgeschnittenes Klebebild vor sich und blickte mich mit bösartigem Gesichtsausdruck an. Kein „guten Tag“ , kein „Nimm bitte Platz“ kam aus ihrem Mund sondern ein wütendes „Wie heißt das zweite Gebot?“

Was war das denn? Hatten wir Religionsunterricht? Was wollte diese Frau von mir. Ich fing an zu schwitzen, das Zittern wurde stärker und ich flüsterte: „Du sollt deinen Vater und deine…“ „Falsch!“ unterbrach sie mich. „Aber lassen wir das. Was hast du da gemacht?“ Sie zeigte auf meine Collage. „Ich habe Bilder aus Magazinen ausgeschnitten und auf die Pappe geklebt!“ „Gefällt dir das?“ „Ja!“ Ich konnte mir immer noch nicht vorstellen, was diese Frau von mir wollte.

Nachdem ich mir einige Tränen aus meinem Gesicht gewischt hatte kam sie endlich mit der Sprache heraus: „Du hast da einen nackten Mann ausgeschnitten mit einer Kette und einem Vorhängeschloss vor dem Bauch in dein Bild geklebt!  Das ist teuflisch, du bist sittlich verkommen, ihr lest wohl zu Hause schlechte Magazine!“  „Nein, nur die Hör Zu, wegen des Fernsehprogramms“ war das einzige, was mir dazu einfiel. und nun liefen meine Tränen wie Sturzbäche aus den Augen. Ich verstand immer noch nicht. Was bedeutet „sittlich verkommen“, was war an diesem Bild teuflisch? Der Mann hatte eine Badehose an, war also nicht nackt und die Kette mit dem Vorhängeschloss über der Badehose sah doch lustig aus.

Es folgte nur noch ein „Sag deiner Mutter, sie soll in meine Sprechstunde kommen“ und damit entließ sie mich. Weinend lief ich zurück in meine Klasse, doch vom Unterricht bekam ich nichts mehr mit.

Zu Hause erzählte ich alles meiner Mutter, nur das „sittlich verkommen“, das verschwieg ich, es musste etwas Schlimmes bedeuten, das hatte ich begriffen. Meine Mutter konnte sich keinen Reim auf das Geschehene machen, meinte nur, ich hätte wohl Frau Reich geärgert und eilte bei nächster Gelegenheit zur immer noch empörten Kunstlehrerin. Sie sprach mit ihr, wurde auch von ihr zum Direktor geschickt, damit ich von der Schule verwiesen werde. Der allerdings quittierte alles mit einem wortlosen Lächeln, und damit war die Sache für die Schule und für meine Eltern erledigt.

Nicht so für mich! Der Tag prägte mein Leben. Ich bekam Angst, Angst vor der Schule, Angst vor den Lehrern, Angst vor meinen Eltern, Angst vor dem Leben an sich. Und diese Angst begleitete mich durch meine gesamte Schulzeit. Frau Reich quittierte meine Collage und meine „sittliche Verkommenheit“ im nächsten Zeugnis mit der Note 4, ich hatte vorher eine 2 gehabt. Diese 4 behielt ich bis ein neuer Lehrer in der Oberstufe die 4 in eine 3 umwandelte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Kunstlehrerin war damals etwa 60 Jahre alt, streng katholisch erzogen, nie verheiratet gewesen, und ich war evangelisch. In meiner Collage stand dieser Mann unten links in der Ecke und über ihm hatte ich drei Engel geklebt, die mit einem Kelch zu diesem Mann herunter schwebten. Diese Engel sollten den Mann retten und ihn auf den rechten Weg führen, auf den Weg zu Gott. Das war natürlich nicht die wahre Interpretation meiner Collage gewesen, aber so hätte ich vielleicht argumentieren können.

Derartiges fiel mir natürlich nicht ein, mir fiel dazu gar nichts ein, ich war erst 11 Jahre alt.

Sina Bach




 

2. Teil

Neuorientierung

Ich lese ein Buch. Das ist für mich nichts außergewöhnliches, ich las schon immer gern und viel. Heute als Rentnerin liege ich nach dem Aufwachen im Bett, genieße 2 Tassen Kaffee, manchmal auch einige selbst gebackene Plätzchen und natürlich (fast) jedes Buch, das mir zwischen die Finger kommt. Dieses morgendliche Ritual ist sehr wichtig für mich, es hilft mir, jeden Tag als ein Geschenk meines Rentnerdaseins glücklich und voller Harmonie zu beginnen.

Ich lese also ein Buch, dieses Mal ist es kein Roman sondern ein Sachbuch geschrieben von einem Autor, der eigentlich bisher nur Romane, Essays und Kurzgeschichten geschrieben hat. Viele seiner Werke kenne ich schon, sie haben mir alle gefallen, alle ohne Ausnahme. Dieses Buch ist der Grund dafür, dass ich nicht, wie vorher geplant, das Tagebuch in chronologischer Reihenfolge schreiben werde. Warum auch?

Manchmal stören mich Termine, die mir ein Friseur, ein Arzt oder meine Eltern zu ausgesprochen früher Stunde festlegen und ich keine Chance habe, diese Termine zu verschieben. Jetzt werden Sie denken, was will die überhaupt? Sie ist Rentnerin, hat doch viel Zeit und die sogenannte senile Bettflucht. Stimmt, Sie haben Recht. Trotzdem fehlt mir dann dieses morgendliche Ritual, beim Arztbesuch muss ich nur ganz selten nüchtern sein, beim Friseur kann ich den Kaffee trinken, der mir im Bett entgangen ist und meine Bücher kann ich auch später lesen, und wenn ich gegen fünf Uhr morgens sowieso wach bin kann ich auch dann meine Zeit des Genießens nutzen, ich müsste also nicht verzichten.

Natürlich könnte ich, aber dann fehlt etwas, meine Freude, meine Ruhe, mein Glücksgefühl. Das Geschenk des Tages verwandelt sich in Stress und mein Tag hat mit negativem Vorzeichen begonnen. Das hält für gewöhnlich bis zum Abend an. Spätestens um 20:00 Uhr bin ich müde, so müde, dass ich vor dem Fernseher einschlafe oder besser gleich zu Bett gehe. Rechnen Sie mal nach, 7 Stunden später bin ich ausgeschlafen, das heißt also gegen 3:00 Uhr. Was mache ich dann bis zu meinem morgendlichen Ritual? Nachdenken? Das kennen Sie sicher auch, Gedanken in der Nacht sind meistens unangenehm und lassen einen nicht mehr einschlafen.

Ich setze mich also drei bis vier Stunden vor den Fernseher, um mich abzulenken. Das klappt ganz gut. Manchmal kann ich danach wieder eine Stunde schlafen, aber manchmal auch nicht. Und, damit ich dann den Tag irgendwie durchstehe, hilft mir zwar mein Ritual um 7:00 Uhr, aber nur ein wenig. Wenn also mein Mann aufwacht, dann bin ich schon seit 4 Stunden aktiv, was bedeutet, dass ich am folgenden Abend spätestens gegen 19:00 Uhr so müde werde, dass ich nach 7 Stunden…..na Sie wissen schon.

So habe ich mir mein Rentnerdasein nicht vorgestellt. Also muss ich das Wort Stress aus meinem Bewusstsein streichen, aber wie? Das Beste wäre natürlich, meine Termine auf später verlegen zu können. Fehlanzeige! Ich könnte versuchen, länger zu schlafen. Das geht ebenfalls nicht, die senile Bettflucht ist allgegenwärtig. Es bleibt also nur bei einem regelmäßigen genau organisierten Tagesablauf, und meiner beginnt eben um 7:00 Uhr mit zwei Tassen Kaffee, manchmal mit einigen selbst gebackenen Plätzchen und mit einem Buch im Bett.

Das Buch, das ich gerade lese heißt übrigens „Von Beruf Schriftsteller“, geschrieben hat es Haruki Murakami, aber davon später.

Sina Bach




 

1. Teil

Debüt

„Ich erblickte das Licht dieser Welt in Gestalt zweier Sechzig-Watt-Glühbirnen“. Nein, es stimmt nicht, das war ein Zitat aus einem berühmten Roman von Günter Grass. Ich habe vor Jahren einmal ein Lehrbuch über die Schriftstellerei gelesen, und da stand, man solle mit einem eindrucksvollen Satz einen Roman beginnen. Das würde Spannung erzeugen und den Leser dazu bringen weiter zu lesen. Und als ich dann auch noch las, dass man für solch einen Anfangssatz sogar einen Preis gewinnen kann wie der gerade genannte Schriftsteller, habe ich meinen ersten Satz bei ihm geklaut. Das kann nicht schaden, auch wenn er nicht zu meiner Wahrheit passt. Lesen Sie also weiter!

Ich selbst erblickte das Licht dieser Welt nämlich mittags, da schien, es war Winter, die Sonne durch das Fenster in das kleine Schlafzimmer meiner werdenden Mutter und blendete fürchterlich. Und es war kalt. Ich schrie mir fast die Lunge aus dem Leib, doch weder die Hebamme noch meine Mutter wollten mir zuhören.

Die Hebamme durchschnitt die Nabelschnur, zählte meine Finger und Zehen und stellte damit fest, dass ich gesund war, legte mich auf einem Sofa im Nebenraum ab und stülpte ein Kissen über mich, was mich nicht sonderlich erwärmte. So begann ich meine Stimme weiterhin zu kräftigen, während das Kissen die Lautstärke zu meinem Leidwesen dämpfte.

Ja, und meine Mutter konnte nicht fassen, dass sie ein Mädchen geboren hatte. Sie war 9 Monate lang absolut sicher gewesen, dass sie einen Jungen austrug, der Roland heißen sollte, und jetzt hatte sie keinen Mädchennamen zur Verfügung. Sie war den Tränen nahe.

Es war, wie schon erwähnt Mittagszeit und mein Vater verdiente gerade unseren zukünftigen Lebensunterhalt irgendwo in der Stadt. Wir hatten weder ein Telefon noch ein Auto, also lief die Frau, die sich ab jetzt Omma (O-Ton der Westfalen) nennen durfte zu seiner Arbeitsstelle, teilte ihm meine Ankunft in dieser Welt mit und kam mit ihm zusammen zurück. Mein Vater griff unter das Kissen, holte mich aus meiner unangenehmen Lage heraus, zählte meine Finger und Zehen und stellte damit ebenfalls meinen Gesundheitszustand fest. Ich war inzwischen des Schreiens müde und schlief in seinen Armen ein. Er wickelte mich in eine Decke und endlich fühlte ich mich wohl.

Die Hebamme verabschiedete sich und eilte zu ihrer nächsten Geburt. Aber, wenn ich glaubte, dass die neue kleine Familie nun Ruhe hatte, dann irrte ich gewaltig.

Meine Eltern heirateten genau 4 Monate vor meiner Geburt, nämlich als man die Schwangerschaft nicht mehr verbergen konnte. Doch sie hatten keine Wohnung, meine Großeltern mütterlicherseits hatten 5 Kinder, von denen meine Mutter die Älteste war. Sie hatten meine Eltern im Haus aufgenommen und ihnen das kleinste Zimmer überlassen. Und als dann neben dem schmalen Ehebett auch noch ein Kinderbett stand war das Zimmer vollgestellt. Die ganze Familie wollte natürlich die neue Erdenbürgerin sehen und drängelten sich an der Tür, um einen Blick auf das Baby zu erhaschen. Als endlich der kleinste Bruder, er zählte 6 Jahre, an der Reihe war und einen Blick ins Kinderbett werfen konnte fragte er meine Mutter mit ernstem Gesicht: „Kann man die heiraten?“ Die Erwachsenen lachten und erklärten, dass das nicht möglich sei. enttäuscht zog er ab. Noch heute wird er damit aufgezogen, was er stillschweigend mit einem Lächeln akzeptiert Er ist inzwischen über 70, verheiratet (nicht mit mir), hat drei Kinder und ein paar Enkel.
Er wurde übrigens mein Lieblingsonkel.

Und dann ging die Suche nach einem Namen los. Gefühlte 1000 Mädchennamen schwirrten durch die Luft. Man konnte sich nicht einigen und die Diskussion wurde erst einmal vertagt. Am nächsten Morgen kamen dann die Eltern meines Vaters. Mein Vater war das Jüngste von drei Kindern und hat als letzter geheiratet. So kamen Bruder und Schwester mit ihren Ehepartnern mit meinen anderen Großeltern und drängten sich genauso in die Eingangstür des sehr kleinen Zimmers meiner Eltern. Gleich entbrannte wieder die Diskussion um einen Mädchennamen und meine Tante, Ehefrau des Bruders meines Vaters, sollte die Patenschaft übernehmen. Ihr Kommentar: „Wenn ich Patin sein soll, dann soll das Kind auch meinen Namen tragen!“ So war das beschlossene Sache. Meine Tante hieß nur Sigismunde, oje, auch das noch. Wie kann man nur so heißen. Der Name verunziert seitdem meine Geburtsurkunde und alle nachfolgenden wichtigen Dokumente.

Wissen Sie was, Sie können mich Sina nennen, ich würde mich freuen. Als ich alt genug war, habe ich mir diesen Namen selbst gegeben und so werde ich von den meisten Leuten heute genannt.

Sina Bach




 

Die internationale Frankfurter Buchmesse

Von: Roseliese Hess

Die internationale Frankfurter Buchmesse unterscheidet sich in den letzten Jahren sehr von früheren Buchmessen. Heutzutage ähnelt sie mehr einer Vergnügungsmesse.

Die Anwesenheit von 16 deutschen Köchen, die mitten zwischen den Ausstellungsständen der Verlage Küchen aufgebaut haben und vor Publikum kochten, hinterließen ein ironisches Lächeln auf meinem Gesicht. Ich wandte mich ab und suchte nach der ursprüngliche Buchmesse, um meinen Literatur-Hunger zu stillen.

In letzter Zeit wird die deutsche Literatur überschwemmt mit Kriminalromanen, Kochbüchern, Diätvorschlägen, Bücher über Therapien von psychischen und physischen Krankheiten, wie werde ich mein eigener Chef, wie gewinne ich Freunde oder wie werde ich…..was auch immer! Literatur talentierter und namhafter Schriftsteller fand ich eher selten.

Während meines Besuchs auf der Frankfurter Buchmesse 2016 konnte ich beobachten, dass sich die meisten deutschen Besucher an erster Stelle für Kriminalromane oder ältere Bestseller interessierten. Die langen Schlangen vor den entsprechenden Ständen der Verlage bewiesen es.  Augenfällig waren die ziemlich leeren Stände der Verlage, die mehr daran interessiert sind, internationale Bücher von Autoren, die als Verfasser hochwertiger Literatur bekannt sind, zu übersetzen und zu publizieren.

Glücklicherweise fand ich zwischen all den Ständen mit Trivialliteratur den Stand des DuMont Verlags, der viele ins Deutsche übersetzte Bücher von Haruki Murakami, einer meiner Lieblingsschriftsteller, ausstellte.

In einem kurzen Interview mit Ihnen: „Warum gerade Murakami?“ antworteten sie: „ weil Murakami unseres Erachtens ein sehr guter Autor ist und wir als DuMont Buchverlag gern gute Bücher herausgeben.“

Leseprobe aus seinem letzten Buch: LESEPROBE ÖFFNEN

Haruki MurakamiVON BERUF SCHRIFTSTELLER (Official Website)

DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG

Amsterdamer Straße 192

D – 50735 Köln

Auf meinem Rundgang durch die Halle mit ausländischer Literatur fielen mir als erstes die fast leeren Gänge auf. Selbst an den einzelnen Messeständen war kaum ein Interessent für die dort ausgestellten Bücher zu finden. Deutsche Besucher habe ich so gut wie gar nicht gesehen, sie waren wohl in einer der langen Reihen und warteten noch auf einen Platz bei den „neuen“ Kriminalromanen. Mich selbst wundert das starke Interesse an Kriminalgeschichten oder Kochbüchern usw. nicht. Fast alle deutschen Fernsehstationen senden täglich mindestens einen Kriminalfilm und ebenso oft Kochsendungen. Beliebt sind unter anderem auch (Arzt- oder Krimi-) Serien im Vorabendprogramm, mit kommerziellen Einspielungen von Medikamenten oder Apothekenzeitungen, kurz alles, was gesund machen soll. Außer den Nachrichten und der sehr ausführlichen Wettervorhersage gibt es im Abendprogramm seichte Unterhaltung. Sendungen, die zum Nachdenken anregen wie politische (Report, Panorama, Frontal 21) und kulturelle Themen (ttt) sind meistens so spät angesetzt, dass sie nur ein Bruchteil der Bevölkerung wahr nimmt.

Das erhärtet den Verdacht, dass vornehmlich in Deutschland durch Politiker oder die Medien verbreitet – das Gehirn der Bevölkerung gewaschen wird. Die Menschen können gar nicht anders, als seichte Romane oder seichte Filme zu konsumieren. Ebenso werden sie ständig dazu angehalten, wie wichtig Geld in ihrem Leben spielt. Ein gutes Beispiel sind Steuern. Unablässig ist von Steuern die Rede, mal müssen sie erhöht werden, viel seltener mal herabgesetzt werden. Begründet wird das damit, dass es den deutschen Banken schlecht geht und dass ein Staat es sich nicht leisten kann, diese Banken ihrem Schicksal zu überlassen und darum immer und immer wieder gestützt werden müssen. Womit? Natürlich mit dem Geld der Steuerzahler.

Sehr spät abends interessiert es den nun Müden nicht mehr, dass die wenigen anregenden Literaturprogramme, meist nur nachts gesendet, unsere Gehirne stimuliert, kreativ zu sein. Es interessiert auch Niemanden mehr sich an den besten Romanen der Weltliteratur, die dann vorgestellt werden, zu erfreuen, darin zu versinken und…..

Ich bin nicht sicher, ob es viele Menschen gibt, die die Definition des Wortes „Phantasie“ kennen.

Murakami schrieb eins in seinem Buch „Naokos Lächeln“: „ Wenn du nur die Bücher liest, die Jedermann liest,  dann kannst du auch nur das denken, was Jedermann denkt.“