Wenn die Kunst kommuniziert!

Tapetenwechsel-Kunstausstellung vom Kunstkreis Freigericht: Sonntag 06 Mai bis August 2017- Rathaus Freigericht.

Foto: Peter Müller

Interview: Manouchehr Abrontan

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Ich bin schon zwei Jahre in Deutschland und ich bin 18 Jahre alt.

In Aleppo habe ich seit der ersten Klasse gemalt.

Es ist schwer über meine Erlebnisse in Syrien zu sprechen. Ich kann das nicht beschreiben. Darum male ich. Meine Malereien sprechen.

Ich habe ein neues Leben in Deutschland. Es ist ein gutes Leben. Manchmal fragen mich die Deutschen, nicht alle Deutschen, warum wir hier sind. Ich sage dann, wohin sollen wir gehen? In Syrien ist Krieg.

Die Menschen wollen nur die schönen Dinge sehen. Hier ist ein Kind. Das Kind weiß nicht, was Krieg ist. Es will nicht an den Krieg denken. Es sieht nur die Blumen.

Die Hände gehören einem Menschen, der den Krieg macht. Es ist egal, wer das ist, er könnte vom IS sein.


Manche denken, dass ich nur traurige Bilder male, aber das ist nicht so. Darum habe ich das gemalt. Bunte Gesichter und die sind nicht traurig.


Er sitzt auf einem Stuhl im Krankenwagen. Ich habe das im Internet gesehen. Der Stuhl ist wie ein Hund. Sein Haus in Aleppo ist eingestürzt. Sein Name ist Oman. Er ist fünf Jahre alt.

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Helmut Kaiser: Die Idee stammt eigentlich von Marlies Brandt, Zaynab al Bahro in den Kunstkreis aufzunehmen. Zaynab al Bahro ist schwer traumatisiert. Sie hat schreckliche Dinge in Syrien erlebt. Sie hat die Bombardierungen auf Aleppo mitgemacht und dabei mehrere ihrer Geschwister verloren. Ihr kleiner Bruder ist ebenfalls so traumatisiert.

Es ist wichtig, diesen Menschen zu helfen und sie von ihrem Trauma zu befreien. Das geht sehr gut über die Kunst, speziell über die Malerei. Die Flüchtlinge haben eine große Sprachbarriere und können sich hier in Deutschland noch nicht gut verständigen, wollen auch gar nicht darüber sprechen. Die Idee sich über die Malerei auszudrücken ist gut und hilft ihnen sehr. Wir vom Kunstkreis geben ihnen darum die Gelegenheit, das auch dauerhaft zu machen.


4. TEIL

Empathie

Meine Mutter lebt in einem Pflegeheim und ich besuche sie regelmäßig. Vor etwa einem Jahr fuhr ich nach meiner Verabschiedung mit dem Fahrstuhl aus dem 3. Stock hinunter zum Ausgang. Ich war in diesem Fahrstuhl nicht allein. In der Ecke stand ein älterer kleiner Mann auf seinen Rollator gestützt und lächelte mich an. Ich grüßte ihn und bemerkte, dass ich mich über sein Lächeln freue, da in einem Pflegeheim die Bewohner sehr selten lachen, geschweige denn lächeln. Diese schauen immer traurig, enttäuscht oder wütend in die Welt und sein Lächeln ist eine wunderbare Abwechslung an so einem Ort.

Er begann zu strahlen und meinte, man müsse mit guter Laune durchs Leben gehen, auch an einem Ort, an dem alle Menschen so ernst drein schauen. Daraufhin verließ er den Fahrstuhl im ersten Stock und ich strebte dem Ausgang zu.

Etwa zwei Wochen später begegnete mir der kleine Mann wieder, dieses Mal am Eingang des Pflegeheims, er erkannte mich, strahlte wieder über das ganze Gesicht, fragte nach meinem Namen und sagte: „Ich bin der Hermann, wir können uns doch duzen,“ und er begann mich in sein Zimmer einzuladen, damit wir uns mal etwas länger unterhalten können. Er hätte auch ein paar Flaschen Wein. Ich sagte ihm, ehrlich gesagt, besuche ich hier meine Mutter und habe keine Zeit, trinke auch kein Alkohol, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, aber wir könnten irgendwann einmal im Café des Pflegeheims einen Kaffee zusammen trinken. Damit erklärte er sich einverstanden und trottete mit seinem Rollator Richtung Fahrstuhl.

„Hallo Sina, schön, dich zu sehen!“ rief er ein paar Tage später. Dieses Mal saß er auf einer Bank vor dem Pflegeheim und ließ die Sonnenstrahlen seinen Körper erwärmen. Wieder kam ich von meiner Mutter und hastete Richtung Parkplatz. Doch ich konnte nicht so tun als hätte ich ihn nicht gesehen und auch nicht gehört. „Hallo Hermann, wie geht es dir heute?“ „Wenn ich dich sehe, dann geht es mir gut, du bist immer so freundlich!“ Ich setzte mich neben ihn auf die Bank und er begann aus seinem Leben zu erzählen, wollte gar nicht mehr aufhören. Ich hörte ihm zu, brauchte gar nichts zu sagen. Er war glücklich. Irgendwann holte er tief Luft und meinte: „Es ist Mittagszeit, ich muss gehen. Sie warten nicht mit dem Essen, wenn ich nicht pünktlich bin.“ Ich atmete auf, doch er war noch nicht fertig. „Wann kommst du immer hierher?“ „Nun ja, ich besuche meine Mutter regelmäßig immer Montags, Mittwochs und Freitags. Ich komme gegen 11:00 Uhr und bleibe etwa eine Stunde“ Damit entließ er mich und ich strebte rasch zu meinem Auto.

Seitdem sitzt Hermann Montags, Mittwochs und Freitags kurz vor 11:00 Uhr auf einer Bank am Parkplatzrand und wartet. Im späten Sommer, an warmen Tagen im Herbst und dann auch an kalten Tagen im Winter, manchmal ohne Mantel, hin und wieder unrasiert, was ihm sehr peinlich ist, sitzt er da, ein Kissen untergelegt, die Füße auf den Rollator platziert, und wenn mein Auto um die Ecke biegt steht er auf, winkt mir schon von weitem zu, hüpft von einem Bein aufs andere und strahlt übers ganze Gesicht. Wenn ich dann vor ihm stehe, umarmt er mich, drückt mich vor Freude. Manchmal bringt er mir auch kleine Geschenke mit, eine Tafel Schokolade oder etwas Obst. Ich habe, obwohl meine Mutter wartet, immer ein paar Minuten Zeit für ihn. Dann nehme ich ihn an die meist kalte Hand, gehe langsam mit ihm ins Haus und zum Fahrstuhl während er seinen Rollator mit der anderen Hand vor sich herschiebt. Am Fahrstuhl drückt er mich erneut and sagt jedes Mal: „Auf Wiedersehen und bis übermorgen. Ich freue mich schon jetzt darauf. Du kommst doch?“ Er hält meine Hand fest bis der Fahrstuhl seine Tür öffnet und ich gehen muss. Bis die Fahrstuhltür schließt winkt er und manchmal wischt er sich heimlich eine Träne aus dem Auge.

Seit letzter Woche ist die Bank leer, er wartet nicht mehr. Ich vermisse sein strahlendes Gesicht, frage mich, will er mich nicht mehr treffen? Ist er krank? Irgendetwas stimmt nicht. Ich gehe zur Pflegeheim-Verwaltung und frage nach Hermann? „Hermann ist vor einer Woche gestorben, er ist friedlich in seinem Bett eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht“ bekomme ich zu hören. Ich bin schockiert, so plötzlich und ohne Vorankündigung verließ Hermann diese Welt.

Zuerst mache ich mir Vorwürfe, wir haben nie einen Kaffee zusammen getrunken, nie hatte ich lange Zeit für ihn und doch war Hermann glücklich gewesen, glücklich über eine Begegnung, die ihm etwas von seiner Einsamkeit im Pflegeheim nahm.

Sina Bach




 

3. Teil

Willkür

„Sigismunde, geh doch bitte sofort zu Frau Reich in den Kunstsaal, sie erwartet dich!“ Mit diesen Worten begrüßte Frau Liebeling, meine Klassenlehrerin, die Schülerinnen der Quinta in der letzten Unterrichtsstunde des Tages. Frau Liebeling unterrichtete Englisch. Ich fiel fast vom Stuhl, so hat mich dieser Satz erschreckt. Was wollte meine Kunstlehrerin von mir, dass das bevorstehende Gespräch wichtiger war als der Englischunterricht, wichtiger als alle Schülerinnen der Klasse mit einem „Guten Morgen“ zu begrüßen?

Verlegen stand ich auf und bewegte mich Richtung Kunstsaal. Unterwegs fing ich an zu zittern, denn so etwas bedeutete nichts Gutes. Allerdings hatte ich auch keine Ahnung, was ich angestellt haben könnte. Vor der Tür holte ich erst einmal tief Luft, klopfte zaghaft an und nach einem zornig klingenden „Herein!“ ging ich hinein. Das Zittern bekam ich jedoch nicht in den Griff. Frau Reich saß starr am Pult, ein von mir entworfenes aus Magazinen ausgeschnittenes Klebebild vor sich und blickte mich mit bösartigem Gesichtsausdruck an. Kein „guten Tag“ , kein „Nimm bitte Platz“ kam aus ihrem Mund sondern ein wütendes „Wie heißt das zweite Gebot?“

Was war das denn? Hatten wir Religionsunterricht? Was wollte diese Frau von mir. Ich fing an zu schwitzen, das Zittern wurde stärker und ich flüsterte: „Du sollt deinen Vater und deine…“ „Falsch!“ unterbrach sie mich. „Aber lassen wir das. Was hast du da gemacht?“ Sie zeigte auf meine Collage. „Ich habe Bilder aus Magazinen ausgeschnitten und auf die Pappe geklebt!“ „Gefällt dir das?“ „Ja!“ Ich konnte mir immer noch nicht vorstellen, was diese Frau von mir wollte.

Nachdem ich mir einige Tränen aus meinem Gesicht gewischt hatte kam sie endlich mit der Sprache heraus: „Du hast da einen nackten Mann ausgeschnitten mit einer Kette und einem Vorhängeschloss vor dem Bauch in dein Bild geklebt!  Das ist teuflisch, du bist sittlich verkommen, ihr lest wohl zu Hause schlechte Magazine!“  „Nein, nur die Hör Zu, wegen des Fernsehprogramms“ war das einzige, was mir dazu einfiel. und nun liefen meine Tränen wie Sturzbäche aus den Augen. Ich verstand immer noch nicht. Was bedeutet „sittlich verkommen“, was war an diesem Bild teuflisch? Der Mann hatte eine Badehose an, war also nicht nackt und die Kette mit dem Vorhängeschloss über der Badehose sah doch lustig aus.

Es folgte nur noch ein „Sag deiner Mutter, sie soll in meine Sprechstunde kommen“ und damit entließ sie mich. Weinend lief ich zurück in meine Klasse, doch vom Unterricht bekam ich nichts mehr mit.

Zu Hause erzählte ich alles meiner Mutter, nur das „sittlich verkommen“, das verschwieg ich, es musste etwas Schlimmes bedeuten, das hatte ich begriffen. Meine Mutter konnte sich keinen Reim auf das Geschehene machen, meinte nur, ich hätte wohl Frau Reich geärgert und eilte bei nächster Gelegenheit zur immer noch empörten Kunstlehrerin. Sie sprach mit ihr, wurde auch von ihr zum Direktor geschickt, damit ich von der Schule verwiesen werde. Der allerdings quittierte alles mit einem wortlosen Lächeln, und damit war die Sache für die Schule und für meine Eltern erledigt.

Nicht so für mich! Der Tag prägte mein Leben. Ich bekam Angst, Angst vor der Schule, Angst vor den Lehrern, Angst vor meinen Eltern, Angst vor dem Leben an sich. Und diese Angst begleitete mich durch meine gesamte Schulzeit. Frau Reich quittierte meine Collage und meine „sittliche Verkommenheit“ im nächsten Zeugnis mit der Note 4, ich hatte vorher eine 2 gehabt. Diese 4 behielt ich bis ein neuer Lehrer in der Oberstufe die 4 in eine 3 umwandelte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Kunstlehrerin war damals etwa 60 Jahre alt, streng katholisch erzogen, nie verheiratet gewesen, und ich war evangelisch. In meiner Collage stand dieser Mann unten links in der Ecke und über ihm hatte ich drei Engel geklebt, die mit einem Kelch zu diesem Mann herunter schwebten. Diese Engel sollten den Mann retten und ihn auf den rechten Weg führen, auf den Weg zu Gott. Das war natürlich nicht die wahre Interpretation meiner Collage gewesen, aber so hätte ich vielleicht argumentieren können.

Derartiges fiel mir natürlich nicht ein, mir fiel dazu gar nichts ein, ich war erst 11 Jahre alt.

Sina Bach




 

2. Teil

Neuorientierung

Ich lese ein Buch. Das ist für mich nichts außergewöhnliches, ich las schon immer gern und viel. Heute als Rentnerin liege ich nach dem Aufwachen im Bett, genieße 2 Tassen Kaffee, manchmal auch einige selbst gebackene Plätzchen und natürlich (fast) jedes Buch, das mir zwischen die Finger kommt. Dieses morgendliche Ritual ist sehr wichtig für mich, es hilft mir, jeden Tag als ein Geschenk meines Rentnerdaseins glücklich und voller Harmonie zu beginnen.

Ich lese also ein Buch, dieses Mal ist es kein Roman sondern ein Sachbuch geschrieben von einem Autor, der eigentlich bisher nur Romane, Essays und Kurzgeschichten geschrieben hat. Viele seiner Werke kenne ich schon, sie haben mir alle gefallen, alle ohne Ausnahme. Dieses Buch ist der Grund dafür, dass ich nicht, wie vorher geplant, das Tagebuch in chronologischer Reihenfolge schreiben werde. Warum auch?

Manchmal stören mich Termine, die mir ein Friseur, ein Arzt oder meine Eltern zu ausgesprochen früher Stunde festlegen und ich keine Chance habe, diese Termine zu verschieben. Jetzt werden Sie denken, was will die überhaupt? Sie ist Rentnerin, hat doch viel Zeit und die sogenannte senile Bettflucht. Stimmt, Sie haben Recht. Trotzdem fehlt mir dann dieses morgendliche Ritual, beim Arztbesuch muss ich nur ganz selten nüchtern sein, beim Friseur kann ich den Kaffee trinken, der mir im Bett entgangen ist und meine Bücher kann ich auch später lesen, und wenn ich gegen fünf Uhr morgens sowieso wach bin kann ich auch dann meine Zeit des Genießens nutzen, ich müsste also nicht verzichten.

Natürlich könnte ich, aber dann fehlt etwas, meine Freude, meine Ruhe, mein Glücksgefühl. Das Geschenk des Tages verwandelt sich in Stress und mein Tag hat mit negativem Vorzeichen begonnen. Das hält für gewöhnlich bis zum Abend an. Spätestens um 20:00 Uhr bin ich müde, so müde, dass ich vor dem Fernseher einschlafe oder besser gleich zu Bett gehe. Rechnen Sie mal nach, 7 Stunden später bin ich ausgeschlafen, das heißt also gegen 3:00 Uhr. Was mache ich dann bis zu meinem morgendlichen Ritual? Nachdenken? Das kennen Sie sicher auch, Gedanken in der Nacht sind meistens unangenehm und lassen einen nicht mehr einschlafen.

Ich setze mich also drei bis vier Stunden vor den Fernseher, um mich abzulenken. Das klappt ganz gut. Manchmal kann ich danach wieder eine Stunde schlafen, aber manchmal auch nicht. Und, damit ich dann den Tag irgendwie durchstehe, hilft mir zwar mein Ritual um 7:00 Uhr, aber nur ein wenig. Wenn also mein Mann aufwacht, dann bin ich schon seit 4 Stunden aktiv, was bedeutet, dass ich am folgenden Abend spätestens gegen 19:00 Uhr so müde werde, dass ich nach 7 Stunden…..na Sie wissen schon.

So habe ich mir mein Rentnerdasein nicht vorgestellt. Also muss ich das Wort Stress aus meinem Bewusstsein streichen, aber wie? Das Beste wäre natürlich, meine Termine auf später verlegen zu können. Fehlanzeige! Ich könnte versuchen, länger zu schlafen. Das geht ebenfalls nicht, die senile Bettflucht ist allgegenwärtig. Es bleibt also nur bei einem regelmäßigen genau organisierten Tagesablauf, und meiner beginnt eben um 7:00 Uhr mit zwei Tassen Kaffee, manchmal mit einigen selbst gebackenen Plätzchen und mit einem Buch im Bett.

Das Buch, das ich gerade lese heißt übrigens „Von Beruf Schriftsteller“, geschrieben hat es Haruki Murakami, aber davon später.

Sina Bach




 

1. Teil

Debüt

„Ich erblickte das Licht dieser Welt in Gestalt zweier Sechzig-Watt-Glühbirnen“. Nein, es stimmt nicht, das war ein Zitat aus einem berühmten Roman von Günter Grass. Ich habe vor Jahren einmal ein Lehrbuch über die Schriftstellerei gelesen, und da stand, man solle mit einem eindrucksvollen Satz einen Roman beginnen. Das würde Spannung erzeugen und den Leser dazu bringen weiter zu lesen. Und als ich dann auch noch las, dass man für solch einen Anfangssatz sogar einen Preis gewinnen kann wie der gerade genannte Schriftsteller, habe ich meinen ersten Satz bei ihm geklaut. Das kann nicht schaden, auch wenn er nicht zu meiner Wahrheit passt. Lesen Sie also weiter!

Ich selbst erblickte das Licht dieser Welt nämlich mittags, da schien, es war Winter, die Sonne durch das Fenster in das kleine Schlafzimmer meiner werdenden Mutter und blendete fürchterlich. Und es war kalt. Ich schrie mir fast die Lunge aus dem Leib, doch weder die Hebamme noch meine Mutter wollten mir zuhören.

Die Hebamme durchschnitt die Nabelschnur, zählte meine Finger und Zehen und stellte damit fest, dass ich gesund war, legte mich auf einem Sofa im Nebenraum ab und stülpte ein Kissen über mich, was mich nicht sonderlich erwärmte. So begann ich meine Stimme weiterhin zu kräftigen, während das Kissen die Lautstärke zu meinem Leidwesen dämpfte.

Ja, und meine Mutter konnte nicht fassen, dass sie ein Mädchen geboren hatte. Sie war 9 Monate lang absolut sicher gewesen, dass sie einen Jungen austrug, der Roland heißen sollte, und jetzt hatte sie keinen Mädchennamen zur Verfügung. Sie war den Tränen nahe.

Es war, wie schon erwähnt Mittagszeit und mein Vater verdiente gerade unseren zukünftigen Lebensunterhalt irgendwo in der Stadt. Wir hatten weder ein Telefon noch ein Auto, also lief die Frau, die sich ab jetzt Omma (O-Ton der Westfalen) nennen durfte zu seiner Arbeitsstelle, teilte ihm meine Ankunft in dieser Welt mit und kam mit ihm zusammen zurück. Mein Vater griff unter das Kissen, holte mich aus meiner unangenehmen Lage heraus, zählte meine Finger und Zehen und stellte damit ebenfalls meinen Gesundheitszustand fest. Ich war inzwischen des Schreiens müde und schlief in seinen Armen ein. Er wickelte mich in eine Decke und endlich fühlte ich mich wohl.

Die Hebamme verabschiedete sich und eilte zu ihrer nächsten Geburt. Aber, wenn ich glaubte, dass die neue kleine Familie nun Ruhe hatte, dann irrte ich gewaltig.

Meine Eltern heirateten genau 4 Monate vor meiner Geburt, nämlich als man die Schwangerschaft nicht mehr verbergen konnte. Doch sie hatten keine Wohnung, meine Großeltern mütterlicherseits hatten 5 Kinder, von denen meine Mutter die Älteste war. Sie hatten meine Eltern im Haus aufgenommen und ihnen das kleinste Zimmer überlassen. Und als dann neben dem schmalen Ehebett auch noch ein Kinderbett stand war das Zimmer vollgestellt. Die ganze Familie wollte natürlich die neue Erdenbürgerin sehen und drängelten sich an der Tür, um einen Blick auf das Baby zu erhaschen. Als endlich der kleinste Bruder, er zählte 6 Jahre, an der Reihe war und einen Blick ins Kinderbett werfen konnte fragte er meine Mutter mit ernstem Gesicht: „Kann man die heiraten?“ Die Erwachsenen lachten und erklärten, dass das nicht möglich sei. enttäuscht zog er ab. Noch heute wird er damit aufgezogen, was er stillschweigend mit einem Lächeln akzeptiert Er ist inzwischen über 70, verheiratet (nicht mit mir), hat drei Kinder und ein paar Enkel.
Er wurde übrigens mein Lieblingsonkel.

Und dann ging die Suche nach einem Namen los. Gefühlte 1000 Mädchennamen schwirrten durch die Luft. Man konnte sich nicht einigen und die Diskussion wurde erst einmal vertagt. Am nächsten Morgen kamen dann die Eltern meines Vaters. Mein Vater war das Jüngste von drei Kindern und hat als letzter geheiratet. So kamen Bruder und Schwester mit ihren Ehepartnern mit meinen anderen Großeltern und drängten sich genauso in die Eingangstür des sehr kleinen Zimmers meiner Eltern. Gleich entbrannte wieder die Diskussion um einen Mädchennamen und meine Tante, Ehefrau des Bruders meines Vaters, sollte die Patenschaft übernehmen. Ihr Kommentar: „Wenn ich Patin sein soll, dann soll das Kind auch meinen Namen tragen!“ So war das beschlossene Sache. Meine Tante hieß nur Sigismunde, oje, auch das noch. Wie kann man nur so heißen. Der Name verunziert seitdem meine Geburtsurkunde und alle nachfolgenden wichtigen Dokumente.

Wissen Sie was, Sie können mich Sina nennen, ich würde mich freuen. Als ich alt genug war, habe ich mir diesen Namen selbst gegeben und so werde ich von den meisten Leuten heute genannt.

Sina Bach




 

Legalisierter Raub – 2011

Legalisierter Raub Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen 1933–1945 Die Ausstellung gibt einen Einblick in die Geschichte der staatlich organisierten Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung Hessens im Nationalsozialismus. Ausgehend von den Biographien der Betroffenen wird dargestellt, was der »legalisierte Raub« für die Opfer bedeutete und wer die Täter waren.

Report: Manouchehr Abrontan

©GLOBALHAMLET2011